Written by 12:00 DEUTSCH, NSU DAVASI

Der erste Mord des NSU jährt sich zum 25. Mal

Am 9. September 2000 vertrat der Blumenhändler Enver Şimşek nichtsahnend einen Mitarbeiter an seinem mobilen Blumenstand. Der zweifache Familienvater lebte eigentlich im hessischen Schlüchtern. Weil sein Mitarbeiter Ali Toy in Nürnberg im Urlaub war, öffnete Şimşek selbst den Blumenstand in der Nürnberger Liegnitzstraße. Es ist eine lange Straße, mitten im Wald und unweit vom Reichsparteitagsgelände, auf dem einst die NSDAP ihre Versammlungen abhielt. Was Enver Şimşek an diesem Morgen nicht ahnen konnte, war, dass er in zwei Tagen tot sein würde. Er sollte zum ersten Opfer des rechtsterroristischen NSU werden. 20 Jahre später wurde die Haltebucht in der Liegnitzstraße in „Enver-Şimşek-Platz“ umbenannt. 25 Jahre nach seiner Ermordung ist es jedoch die Täterin, Beate Zschäpe, die erneut Schlagzeilen macht.

Alev Bahadir

Was mit Enver Şimşek begann, setzte eine Mordserie in Gang, wie sie Deutschland bis dahin nicht gesehen hatte. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren drei Neonazis, die nach Razzien und Sprengstofffunden in Thüringen untergetaucht waren. Bis 2011 gab es keine Spur von ihnen, obwohl sie nachweislich neun Morde an migrantischen Ladenbesitzern und einen Mord an einer deutschen Polizistin begangen hatten. Auch drei Bombenanschläge gingen auf das Konto des NSU. In all dieser Zeit wurden sie von anderen Neonazis unterstützt. Diese bekamen teilweise Geld, weil sie Informanten des Verfassungsschutzes waren. Auch direkt angestellte Mitarbeiter des Verfassungsschutzes wurden z.B. in Kassel in Verbindung mit dem Trio gebracht. Dass der Inlandsgeheimdienst Nazis finanzierte, die anschließend Morde begingen, steht heute außer Zweifel. Wie weit das Netzwerk des NSU reichte, ist noch immer nicht aufgeklärt und wird es wohl auch nicht. Der Staat nämlich zeigt kein Interesse an der Aufklärung. Wenn neue Fakten ans Tageslicht kommen, sind es vielmehr Journalisten, Anwälte oder Hinterbliebene, die diese leisten.

Enver Şimşek: Ermordet und kriminalisiert

Die Absicht der gewaltbereiten Nazis lag offen auf der Hand: Vorbereitungen für einen Tag X treffen, an dem sie die Macht ergreifen. Nachdem der NSU bereits 1999 eine erste Bombe in einer von einem jungen Migranten betriebenen Gaststätte gelegt hatte (was dieser schwerverletzt überlebte) kehrten sie für ihren ersten Mord nach Nürnberg zurück. Die beiden Männer erschossen Enver Şimşek aus nächster Nähe. Warum es ihn traf, weiß bis heute niemand. Am 11. September 2000 erlag Şimşek seinen Wunden. Während die Familie trauerte und Antworten forderte, war alles, was sie von Polizei und Medien bekam, die Verleumdung ihres Vaters. Viele Jahre später hat Semiya Şimşek, Envers Tochter, ein Buch über ihre Erlebnisse geschrieben. Beispielhaft für das, was alle Familien, die Opfer des NSU wurden, durchgemacht haben, beschreibt sie Abscheuliches. Obwohl ihre Mutter bereits früh darüber sprach, man solle im rechten Milieu ermitteln, entschieden sich die ermittelnden Behörden dafür, die Familie zu drangsalieren. Şimşek wurde in die Nähe von Drogenhandel und türkischer Mafia gerückt. Um den Willen der Ehefrau zu brechen, erfand die Polizei sogar eine Geliebte. Heute wissen wir, dass all diese Anschuldigungen haltlos waren. Dass die Ermittlungen und die Berichterstattung von Rassismus zersetzt waren. So nannte sich die ermittelnde Einheit „SoKo Bosporus“ und die Nürnberger Nachrichten sprachen von „Dönermorden“. Doch damals führte die Familie von Enver Şimşek einen Kampf. Den Kampf darum, dass das Andenken ihres Vaters nicht beschmutzt wird und die Schuldigen gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden. Bald waren sie darin nicht mehr allein. Innerhalb weniger Monate im Jahr 2001 ermordeten die Terroristen Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, Süleyman Taşköprü in Hamburg und Habil Kılıç in München. 2004 folgte der Mord an Mehmet Turgut in Rostock, 2005 die an İsmail Yaşar in Nürnberg und Theodoros Boulgarides in München. 2006 ermordete der NSU Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel. Ihr letztes Opfer war 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Nach dem Sprengstoffanschlag in Nürnberg hatten die Nazis zudem zwei weitere Bombenanschläge in Köln begangen.

Die Ermittlungsbehörden brachten all diese Dinge nicht zusammen und ermittelten lieber gegen die Opfer, als gegen die Täter. Erst 2011, als die beiden Uwes nach einem Banküberfall und Schusswechsel mit der Polizei erschossen in einem Wohnwagen aufgefunden wurden und Beate Zschäpe sich wenige Tage später stellte, schien es endlich gelöst: es waren die ganze Zeit Neonazis.

Der Prozess: Gemauert und geschwiegen

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versprach Aufklärung. Plötzlich wurden den Familien Versprechungen gemacht. Die Hoffnung erlosch aber schnell. Der Mammut-Prozess gegen Beate Zschäpe und Mitangeklagte in München endete ohne wirkliche Aufklärung. Die Mittäter kamen mit niedrigen Strafen davon, Nazis im Saal applaudierten bei der Urteilsverkündung. Während die Bundesanwaltschaft bis zum Schluss bei der Drei-Täter-Theorie blieb, schwieg Beate Zschäpe fast über den gesamten Prozess hinweg. Als sie sich dann äußerte, kam die Ernüchterung: diese Frau würde nichts zur Aufklärung beitragen. Stattdessen verkaufte sie sich als Opfer der Uwes, die unwissend und unfreiwillig Mittäterin wurde. Dabei zeigen andere Aussagen immer wieder: auch wenn Zschäpe keine Kugel abgefeuert hat, war sie der logistische Kopf des Trios, plante die Taten mit und war keineswegs unschuldig. So endete der Prozess für sie mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.

Die Kämpfe dauern an

Bis heute kämpfen die Familien der NSU-Opfer um Aufklärung, aber auch um das Nicht-Vergessen. Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık haben im August dieses Jahres ein Jugendbuch über die Morde des NSU und ihre Erlebnisse herausgebracht. Gleichzeitig müssen sie weiterhin gegen Zschäpe kämpfen. Denn im Sommer wurde ebenfalls bekannt, dass die Terroristin in ein Ausstiegsprogramm für Neonazis aufgenommen wurde. Zschäpe, die weder zur Aufklärung beigetragen hat, noch Reue gezeigt hat, nutzt dieses Programm gezielt, um eine frühzeitige Haftentlassung vorzubereiten. Dagegen haben Semiya Şimşek, Gamze Kubaşık und Mandy und Michalina Boulgarides eine Petition ins Leben gerufen, in der es heißt: „Wir haben unsere Liebsten verloren und wurden mehr als ein Jahrzehnt vom Staat und der Gesellschaft kriminalisiert, ignoriert und im Stich gelassen. Jetzt werden wir erneut übergangen.“ Sie kritisieren den Ausstieg als taktisches Manöver und die fehlende Bereitschaft zur Aufklärung. Zu einem glaubhaften Ausstieg gehört die Offenlegung des gesamten Täter*innen-Wissens gegenüber uns Betroffenen, unseren Antwält*innen und den Strafverfolgungsbehörden. Hinterzimmergespräche mit Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz sind kein Nachweis eines Ausstiegs.“

Am 9. September gehen Angehörige und Antifaschisten in Nürnberg in Gedenken an Enver Şimşek und alle NSU Opfer auf die Straße. Klar ist, die Forderung nach Aufklärung, die Erinnerungsarbeit und der Kampf gegen Rechts dauern an.

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