Sinan Köylü
Während der diesjährigen Osterfeiertage wurden deutschlandweit in vielen Städten und Ortschaften die Ostermärsche (OM) durchgeführt. Aus der Tradition der 1960er Jahre heraus, durch Proteste gegen die nukleare Aufrüstung entstanden, stellen die OM neben dem Antikriegstag am 1. September die wichtigste jährliche Aktion der Friedensbewegung dar. Dieses Jahr stand jedoch ein Thema ganz oben auf Tagesordnung der friedenspolitischen Agenda: die zunehmende Spaltung der Friedensbewegung seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs spiegelt sich in Wahrnehmung, inhaltlicher Ausrichtung und Mobilisierung der diesjährigen OM wieder.
Trotz Zunahme der Teilnahme: es ist noch lang nicht genug
Bereits im letzten Jahr fanden die OM unter widersprüchlichen Vorzeichen statt. Allein die Frage nach der Beurteilung des Charakters der russischen Seite führte zu viel Sprengstoff, um die Vorarbeit für die OM zu erschweren. Ferner war das Jahr zwischen dem letzten und diesem OM mit vielen Umbrüchen begleitet. Sowohl die öffentliche und meist herrschende Diskussion um Waffenlieferungen und die Frage nach der Eskalation des Krieges einerseits, aber auch die inner-friedenspolitischen Diskussionen um den Charakter des Krieges und die richtige Strategie, sorgten für viele Zerwürfnisse aber auch neue Perspektiven. Der von Wagenknecht und Schwarzer initiierte „Aufstand für Frieden“ stellte dabei nur den Abschluss einer vorausgegangenen Entwicklung dar und ebnete den Weg zu einer möglichen neuen Friedensbewegung.
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die diesjährigen OM, so erscheinen die Reibungen und Spaltungen als natürliche Konsequenz eines bereits vorangegangen Kampfes um die Deutungshoheit der aktuellen Welt- und Kriegslage. Tatsächlich liegen die Gräben noch viel tiefer und sind ideologischer Natur. So ist es auch nicht verwunderlich, dass trotz des konjunkturellen Aufschwungs für das Interesse von Frieden in Zeiten eines großen Krieges auf dem europäischen Festland, die Teilnahme an den OM hinter den Erwartungen und dem Selbstverständnis der Friedensbewegung zurückblieben. Auch wenn sich in diesem Jahr mehr Menschen beteiligt haben, als in den Vorjahren ist das keinesfalls genug. In Berlin nahmen rund 3000 Menschen an der Demonstration teil, in Hamburg waren es 1500, in anderen großen deutschen Städten deutlich weniger Teilnehmer:innen.
DIE LINKE und ihre Haltung zu den Ostermärschen
Insbesondere die institutionell forcierte Spaltung beschränkte das öffentliche Mobilisierungspotential der friedensbewegten Menschen. So verurteilte der Berliner Landesverband der Linken den Aufruf zum OM und sorgte so für große Irritationen bezüglich der Haltung der Partei zu den Traditionsdemonstrationen. Begründend wurde die ablehnende Haltung des Landesverbands mit der Kritik, den Angriffskrieg Moskaus im Aufruf zum OM nicht erwähnt zu haben.
Doch das hielt den Berliner Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg nicht davon ab, den Aufruf zu unterstützen. Diese ambivalenten Verkündungen zwischen Landes- und Bezirksebene sind nicht nur charakteristisch für das Vorgehen der Linkspartei als solche, sondern Ausdruck der tiefen Zerrüttungen der friedenspolitischen Aktivist:innen. Der Unterschied der Haltung der Linkspartei zur Haltung einer kleinen Partei oder Organisation ist jedoch qualitativ, da grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zur Praxis der Linken direkt das Gehör der Öffentlichkeit finden. So verhalf der Trotz des Berliner Landesverbands das Mobilisierungspotential der OM zu unterminieren.
Dabei bedarf es gerade einer starken Präsenz fortschrittlicher Kräfte auf den OM. Die Kritik, dass sich rechte und rechtsoffene Organisationen und Parteien an den OM beteiligen und diese als Plattform für ihre Propaganda nutzen, ist wahr. So waren auf dem Berliner OM die Flaggen der Freien Linken und der Basis deutlich erkennbar, welche beispielsweise eine Zusammenarbeit mit der Reichsbürgerbewegung nicht ausschließen. Ihnen Bewegungs- und Redefreiheit zu gewährleisten ist ein Thema für sich und zieht zurecht Kritik auf die Veranstalter:innen der OM auf sich.
Es bedarf einer Stärkung der OM
Die eigentliche Frage ist nur, wer diesen Gruppierungen den Raum gibt. Denn mit einem plumpen Verbot lassen sich keine reaktionären Gedanken und Inhalte von den OM verbannen. Der Raum für rechte und nationalistische Organisationen wächst nur, weil der Kampf der fortschrittlichen Kräfte eigenverantwortet zurückgedrängt wird. Die Haltung von offiziellen Strukturen der Linkspartei, aber auch die Distanzierung seitens der Gewerkschaften und anderer Organisationen führt zu einer Spaltung, die gerade den trojanischen Pferden von Freie Linke bis Basis, und den offenen Rechten von Elsässer bis AfD in die Hände spielen, um aus einer friedenspolitischen Perspektive eine sogenannte Querfront als Helfershelfer der reaktionärsten Teile des deutschen Imperialismus zu formen.
So ist es auch unabdingbar, eine kritische aber ehrliche inhaltliche Auseinandersetzung mit einigen friedenspolitischen Aktivist:innen zu suchen, welche immer noch Grundsätzen anhängen, die einer wirklichen Friedensbewegung mit Massenbasis im Wege stehen. Die Beurteilung des Charakters des Ukrainekriegs, die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht und die Frage nach der innerdeutschen Aufrüstung müssen von allen Organisationen, die an einem Aufbau einer neuen fortschrittlichen Friedensbewegung interessiert sind, offen diskutiert werden. Die Verleumdungen, man würde gemeinsame Sache mit der NATO machen, weil man Russlands Einmarsch kritisiert, stellen nur ein Beispiel eines Spaltungsversuchs dar, die der Friedensbewegung weiter zusetzt.
Doch darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ausschließliche Suche nach der wahrhaftigen Position, die OM langfristig nicht stärken wird. Die OM hatten in früheren Zeiten einen Massencharakter und haben diesen schon lange verloren. Dass durch viele gesellschaftliche Schichten und Anschauungsweisen hindurch Menschen an den Friedensdemonstrationen teilnahmen, muss auch heute wieder das Ziel sein. Jeder Mensch, der ehrlich für eine friedliche Welt eintritt, mag er auch Friedensillusionen anhängen, muss seinen Weg zu den OM finden. Von Kirchen, über Gewerkschaften, bis hin zu migrantischen Organisationen und sozialen Bewegungen muss die Friedensbewegung eine Front bilden, damit sie, ja, damit die Menschheit noch eine Zukunft hat.