Oktay Demirel
Die Sommerferien in der Türkei sind nun vorbei und die Schulen haben wieder geöffnet. Dies nahmen wir zum Anlass, uns mit der aktuellen schulischen Bildungssituation in der Türkei auseinanderzusetzen. Die Bildungspolitik der AKP-Regierung steht seit Jahren im Zentrum intensiver Kritik. Unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der AKP wurden zahlreiche Reformen im Bildungsbereich durchgeführt, die gravierende Auswirkungen auf die Recep Tayyip Erdoğan gesellschaftliche Entwicklung hatten.
Zentralisierung und Islamisierung der Bildung
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zentralisierung des Bildungssystems und der AKP-Einfluss auf Bildungsinhalte und Prüfungen stark zugenommen. Viele Bildungsreformen wurden von der AKP-Regierung im Schnellverfahren durchgesetzt, oft undemokratisch per Präsidialdekret und meist ohne ausreichende Datengrundlage zur Bildungsqualität oder Beratung durch Bildungsexperten. Fortschritte in den Schulen, wie etwa nationale Leistungsbewertungen, werden nicht regelmäßig und transparent veröffentlicht. Beispielsweise gab es im Jahr 2023 keine aktuellen Statistiken zur Bildungsentwicklung, was Besorgnis auslöst, da Präsident Erdoğan sich positive Propaganda wohl kaum entgehen lassen würde.
Die AKP hat die Bedeutung religiöser und nationalistischer Bildung stark erhöht. Besonders deutlich wird dies am Ausbau der İmam-Hatip-Schulen, die ursprünglich zur Ausbildung von Imamen dienten. Mittlerweile bieten diese Schulen jedoch auch eine allgemeine Schulbildung an und zielen darauf ab, Kinder zu frommen Bürgern und Dienern des Staates auszubilden. Auch an regulären Schulen wurde der Stellenwert des Religionsunterrichts in den Lehrplänen aufgewertet, während wissenschaftliche Inhalte, wie die Evolutionstheorie, an Bedeutung verloren haben. Seit 2017 ist die Evolutionstheorie vollständig aus den Biologie-Lehrplänen gestrichen, was sowohl international als auch im Inland für Kontroversen sorgte. Gleichzeitig liegt der Fokus der Geschichtslehre vermehrt auf osmanischer und islamischer Geschichte, während die säkulare Gründung der modernen Türkei zunehmend in den Hintergrund rückt.
Erosion der öffentlichen Bildung
Die öffentliche Bildung in der Türkei befindet sich in einer tiefen Krise. Während staatliche Schulen unterfinanziert bleiben, fließen große Teile der staatlichen Subventionen in Privatschulen. Diese gelten als Investitionsschwerpunkt der Regierung und profitieren von Steuererleichterungen, Mehrwertsteuerbefreiungen und oft kostenloser Zuteilung staatlicher Grundstücke. Als Folge dieser Politik stieg der Anteil der Privatschulen im Bildungssystem von 1,9 % im Jahr 2002 auf 9,3 % im Jahr 2023 und das Verhältnis von privaten zu öffentlichen Schulen liegt inzwischen bei 23,5 %. Im Jahr 2023 waren von 75.000 Schulen insgesamt 14.281 Privatschulen (zum Vergleich: In Deutschland sind ca. 10 % der Schulen Privatschulen).
Diese Entwicklung hat nicht nur das Bildungsangebot verändert, sondern auch die soziale Ungleichheit in der Türkei verstärkt. Für Eltern bedeutet die Einschulung eine zusätzliche finanzielle Belastung. Eltern müssen jährlich mindestens 5.000 TL an „Spenden“ für die Anmeldung ihrer Kinder an öffentlichen Schulen aufbringen, zusätzlich zu Kosten für Schuluniformen (1.000 bis 2.500 TL) und Schreibwaren (eine Schultasche kostet 400 TL, ein Block A4-Papier 150 TL). Allein 2022 stiegen die Kosten für den Zugang zur öffentlichen Bildung um 69,3 %.
Dies erhöht den finanziellen Druck auf die Familien, während die Qualität der öffentlichen Bildung gleichzeitig sinkt. Die chronische Unterfinanzierung staatlicher Schulen führt zu einem wachsenden Leistungsgefälle zwischen öffentlichen und privaten Schulen. So stammen beispielsweise 20 % der Spitzenkandidaten der Gymnasialübergangsprüfung (LGS) 2024 aus nur drei Privatschulen. Der Erfolg dieser Schulen, gepaart mit starker Werbung für sogenannte „Eliteschulen“, verstärkt die Wahrnehmung, dass private Bildung der Schlüssel zu akademischem und beruflichem Erfolg ist. Dies erhöht den Druck auf Familien, die es sich leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. An öffentlichen Schulen hingegen wird zu wenig in die Infrastruktur, Ausstattung und das Personal investiert. Lehrer an öffentlichen Schulen berichten von großen Klassen, mangelnden Ressourcen, dem fehlenden Schutz vor Entlassung, schlechten Arbeitsbedingungen sowie vom niedrigen Gehalt.
Förderung von Kinderarbeit
Mit dem MESEM-Projekt, das seit 2016 besteht und weiteren bildungsbezogenen Initiativen hat die AKP-Regierung einen starken Fokus auf die berufliche Ausbildung und den schnellen Übergang der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt gelegt. Das Projekt zielt darauf ab, Jugendliche frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, was von der Wirtschaft stark befürwortet wurde, gleichzeitig jedoch die allgemeine Schulbildung vernachlässigt. Diese Maßnahmen stellen kurzfristige wirtschaftliche Interessen über langfristige Bildungsziele. Das Projekt fördert letztlich Kinderarbeit, da Jugendliche ab 14 Jahren in Vollzeit arbeiten und nur eine geringe Vergütung erhalten.
Insgesamt zeigt sich, dass das Bildungssystem zunehmend in zwei Lager gespalten wird: Auf der einen Seite stehen die Privatschulen, die akademische Eliten ausbilden, auf der anderen Seite Projekte wie MESEM und die İmam-Hatip-Schulen, die Jugendliche frühzeitig in den Arbeitsmarkt drängen. Die Förderung von Privatschulen und die Einführung des MESEM-Projekts verdeutlichen, dass die Regierung den wirtschaftlichen Nutzen über den Bildungswert stellt. Die zunehmende Spaltung zwischen öffentlicher und privater Bildung verschärft soziale Ungleichheiten und gefährdet die Zukunftschancen vieler Schüler, die zu frommen Arbeitern ausgebildet werden, die das bestehende System nicht in Frage stellen sollen.