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Die Gefahr der Diktatur wird überschattet!

Wir unterhielten uns mit Aydın Çubukçu, Herausgeber der Zeitschrift Evrensel Kültür und Mitglied des Propagandabüros der EMEP (Partei der Arbeit) über den Militärputschversuch vom 15. Juli 2016.

Serpil İLGÜN /İstanbul

Der türkische Staat wurde wieder einmal mit einem Militärputsch konfrontiert. In seiner 90 jährigen Staatsgeschichte wurde das Land immer wieder von Militärdiktaturen regiert. Im modernen Zeitalter hatte man das Eintreffen und die Machtübernahme einer neuen Militärdiktatur nicht erwartet oder für höchst unwahrscheinlich eingestuft. Aber dennoch gab es einen Militärputschversuch, der noch rechtzeitig verhindert und zerschlagen werden konnte.
Bei dem Putschversuch kamen über 200 Zivilisten, Soldaten und Polizistinnen ums Leben. Dieser Putschversuch legte der AKP-Regierung die Möglichkeit in die Hände, eine große “Säuberungsaktion“ in der Bürokratie, in allen Institutionen und allen voran in der Armee und bei dem Polizeiapparat zu durchzusetzen.
Wie muss dieser Militärputschversuch insbesondere in der jetzigen politischen Landschaft, in der vor nicht langer Zeit der Ministerpräsident abgesetzt wurde, Intellektuelle, Journalistinnen und Akademikerinnen verhaftet werden, kurdische Städte und ganze Landschaften aus der Landkarte wegbombardiert wurden und dem Erdboden gleichgemacht werden, verstanden werden? Welche Bedeutung hat der Militärputschversuch für die Völker und Beschäftigten in der Türkei? Was wird Erdogan jetzt tun? Hat die USA diesen Militärputschversuch unterstützt? Während zu den Massen, die zu den „Demokratiewachen“ aufgerufen werden und die auf den Straßen und öffentlichen Plätzen lynchen, geschwiegen wird, werden die Rufe nach einer „Todesstrafe“ toleriert und positiv bewertet. Wie muss sich jetzt die Demokratiebewegung aufstellen? Aydin Cubukcu hat unsere diesbezüglichen Fragen beantwortet.


„Während die AKP-Regierung Tag ein Tag aus propagierte, „Die Zeit der Militärputsche gehöre der Geschichte und Vergangenheit an! Die Hände der Religionsgemeinschaft (gemeint ist die Gülengemeinde) wären gebrochen und verbunden“, ereignete sich am Freitagabend ein Militärputschversuch, bei dem sogar das Parlamentsgebäude bombardiert wurde. Wie war so etwas überhaupt möglich?
Die politische Arbeit und alle politischen Aktivitäten der AKP wurden für eine lange Zeit bestimmt und getragen von dem Kampf gegen die religiöse Gülengemeinde, die sich in den Jahren zuvor in die staatlichen Gremien eingeschleust hatte. Wir ahnten und sahen, dass dieser Kampf innerhalb der Justiz, innerhalb des Polizeiapparates, in den Universitäten und insbesondere innerhalb der Armee sich zuspitzen würde. Einige wichtige Informationen über das Vorhaben wichtige Posten im Hohen Militärrat während der Tagung Anfang August komplett neubesetzen zu wollen, waren auch schon im Umlauf und wurden in der Öffentlichkeit und Presse diskutiert. Diese Anspannungslage war eigentlich ein Produkt des Kampfes um den Machterhalt der AKP-Regierung und Recep Tayyip Erdogans, die im Zuge des Kampfes um ihren Machterhalt nach dem 17.-25 Dezember sich den Angriffen der Gegenseite umfangreich „widersetzten.“ Die Regierung verfolgte sowohl in der Innenpolitik, als auch in der Außenpolitik den aggressiven Kriegskurs und stärkte damit ihre Partnerschaften und Bündnisse. Sie hatte es geschafft die Armee und die beiden großen politischen Parteien, die CHP und die MHP in ihre Bündnisse zu gewinnen und einzubinden. Somit war ihr bewusst und sie rechnete nur damit, dass sie ihre Macht einzig und allein nur dann verlieren würde, wenn innerhalb des Regierungsapparates Intrigen erfolgen würden. Aus dem Grunde hatte sie sich auch auf diese gut vorbereitet. Der Hohe Militärrat wäre somit die abschließende letzte Vorbereitungsphase gewesen. Auf der anderen Seite störte das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem und wie dessen Aufbau vollzogen werden sollte, gewisse Teile und Bereiche der Staatsbürokratie. Schritte und Machenschaften wie die Einmischung und der Versuch der Einflussnahme bei den Entscheidungen des Kassationsgerichtshofes und der Versuch das Oberste Verwaltungsgericht abzuschaffen und aufzuheben und die vollständige Kontrolle der Universitäten durch das Präsidialsystem etc., kurzum den Staat in der Hand des Präsidenten neu zu strukturieren, beunruhigte die Bürokratie mehr und mehr.


Können sie erläutern, was sie mit dieser Beunruhigung meinen?
Die Umstrukturierung der staatlichen Institutionen könnten Lockerungen und Erschütterungen hervorrufen, während man ja auch gleichzeitig parallel dazu, den Staat neustrukturiert und reorganisiert hat. Als Beispiel dazu, Kenan Evren hatte mit seinem Militärputsch von 1980 vor, den Staat zu stärken. Erdogans Versuch umfasst aber ein ganz anderes Ziel. Er will einen völlig anderen Staat gründen. Er will in erster Linie die Gewaltenteilung abschaffen. Das hieße wiederum, dass alles, was mit der Einführung des Mehrparteiensystems in der Türkei aufgebaut und seit 60-70 Jahren praktiziert und vollzogen wurde, aufgegeben und aufgehoben werden muss. Ein Staatsmechanismus kann derartig grundlegenden Veränderungen, die innerhalb kürzester Zeit vollzogen werden, nicht standhalten und diese Veränderungen nicht tragen können, er würde einkrachen und zusammenbrechen. Demzufolge haben einige Kräfte innerhalb der Armee, seien es in diesem Fall Kräfte der Gülengemeinde, von dieser Erschütterung Hoffnung ausgeschöpft. Also sie wurden etwa von solch einer Idee geleitet, „Wenn wir das jetzt durchziehen, wird der Staat, ob er möchte oder nicht, reflexartig sich an unsere Maßnahmen festklammern.“ Aber in Wirklichkeit war seit langem der Fall eingetreten, dass der Staat in Polizei und Militär aufgeteilt war und die Polizei im Gegensatz zum Militär Übergewicht gewonnen hatte und das Militär zurückstecken musste. Die Linie der Regierung, die Macht durch die Polizei zu erhalten, verringerte die Rolle des Militärs und zwang die Armee sich aus manchen Bereichen des Lebens zurückzuziehen, sie wurde dazu noch durch Liquidationen geschwächt und auch aus der Politik mehr und mehr zurückgedrängt und verbannt.
Aber die Armee atmete dadurch wieder auf, nachdem die Verhandlungsphase mit der PKK beendet wurde. Das war einer der Bedingungen, die diese Schwächung der Armee wieder aufgehoben hatte…
Der Krieg gegen die Kurden hat dazu geführt, dass die Armee einen bestimmten Grad an Bedeutung gewann. Dass die kurzfristigen Ziele, die der Staat sich in Verbindung mit dem Kurdenkrieg vorsetzte, erreicht wurden, beendete mit einem Schlag die Neuordnung der Kompetenzfrage. Es sah so aus, als ob der Kampf gegen die PKK innerhalb kürzester Zeit gefruchtet hatte. Diese Phase endete damit. Das schien zumindest so und genau in dieser Phase, wo die Tendenz der Selbsverteidigungsmechanismen sich in Bewegung setzte, haben die Putschisten auch ihre Chance gewittert. Es gab jene Hoffnung: „Die Armee kann sich, um sich aus dieser Situation, in die sie hineingepfercht und -gezwungen wurde, zu befreien, um die Putschisten scharren!“

Dennoch wie kam es überhaupt zu solch einem Putsch, wo doch Erdogan das Verteidigungsgesetz für die Soldaten verabschiedete und das Bündnis zwischen der AKP und der türkischen Armee damit einhergehend noch mehr intensiviert und gestärkt wurde?

Die Armee war keine Einheit. Ihre Führungskader und Spitze sollten unter der Führung von Hulusi Akar sich dem Palast Erdogans unterordnen und der Kurdenkrieg war dazu in der Lage die wellenartigen Bewegungen innerhalb der Armee stillzulegen. Also die Einheit gegen die PKK bestimmte den Tenor und des Weiteren das gemeinsame Vorgehen in der Armee. Aus diesem Grunde war es auch nicht möglich gewesen, dass dieser Konflikt und Kampf innerhalb der Armee deutlich wurde, dieser Konflikt wurde durch den Krieg gegen die Kurden überschattet.

 

Zu welchem Zeitpunkt kam der Putschversuch?

Nachdem in den kurdischen Städten, die bewaffneten Militäroperationen in die Abschlussphase übergingen und bald beendet werden sollten. Damit zusammenhängend war ja einer der Hauptursachen aufgehoben und von der Welt geschaffen, die die unterschiedlichen Fraktionen zusammengehalten hatte. Gerade unter solchen Bedingungen und in solch einer Phase war eine derartige Aufspaltung innerhalb der Armee möglich geworden.

DER EINZIGE AUSWEG AUS DIESER SITUATION IST ES, DEN GEMEINDAMEN KAMPF ZU ORGANISIEREN.

Was für eine Lehre können und müssen die Völker in der Türkei aus diesem versuchten Staatsstreich seitens des Militärs vom 15. Juli ziehen?
Erstens ist eines ganz deutlich geworden. Unser Vorschlag den demokratischen Kampffront des Volkes zu organisieren, hat sich als richtig erwiesen, um in der Türkei überhaupt eine Demokratisierung herbeiführen und erreichen zu können. Es gibt keinen anderen Weg als diesen Einzigen. Trotz des Putsches hat sich diese Aufgabe, einen gemeinsamen Kampf aufzubauen, nicht geändert. Im Gegenteil sie wird gerade jetzt dringender denn je. Wenn wir wirklich diesen Putsch abwehren und die Demokratie, den Laizismus und die Freiheiten erfolgreich bestreiten wollen und ich denke das Volk will es so auch, dann muss das unverzüglich in die Tat umgesetzt werden. Um eine demokratische Volksfront oder wie sie auch sonst genannt werden mag und, um die Einheit aller gesellschaftlichen Kräfte und der vorhandenen dynamischen Kräfte zu bündeln, dürfen alle Kräfte, die gerade dazu fähig und in der Lage sind, diese Kräfte zusammenbringen und zusammenführen zu können, keine Zeit verlieren. Sie dürfen sich auch nicht gerade über Detailfragen streiten und damit einhergehend wichtige Zeit verlieren. Wir befinden uns gerade in einem Engpass, wir werden mit einem Messer, der direkt an unserer Hauptschlagader sitzt, bedroht. Wir müssen diese Situation so rasch wie möglich abwehren.


Gerade ist es für diejenigen legitim und wird als selbstverständlich anzusehen, die den Erdogan nicht unterdrücken lassen wollen, andere gesellschaftlichen Teile zu unterdrücken!
Mit Gebetrufen und Dschihadaufrufen aus den Moscheen wurden Muslime auf die Strasse gebeten, um sich den Panzern mit „Allhu akbar“-Rufen entgegenzustellen. Diese Massen haben „alle, die nicht von ihnen waren und sich nicht zu ihnen bekannten“ angegriffen und gelyncht. Was wollen sie dazu sagen?
Seit einer geraumen Zeit wird die Lage beherrscht von einer die Gewalt verherrlichenden und durch eine ideologische Unterfütterung als Legitim zu zeigenden Wirklichkeit. Die Anwendung und Ausübung von Gewalt wird unter bestimmten Voraussetzungen als legitim erachtet und propagiert. Angriffe und Lynchpraktiken wurden als Resultat der spontanen Reaktion der „besorgten Bürger“ definiert und dargestellt. Nach dem 15. Juli wollen sie aber uns verdeutlichen, dass Diejenigen, die nicht zulassen werden, dass Erdogan unterdrückt wird, selbst uns unterdrücken wollen und unterdrücken werden. Dass sie diese Unterdrückung als legitim und berechtigt anerkennen. Sie wollen also verdeutlichen, wir werden alle abmähen und vernichten, die Erdogan anrühren wollen! Und Erdogan sagt dazu offen: „Ja mäht und vernichtet sie alle!“


Und meinen Sie nicht, dass das auch zumindest so gefährlich ist, wie der Putsch selbst?
Das Gefährliche daran ist, dass es schnell ausarten und dazu führen kann, dass ein Bürgerkrieg ausbricht. Bevor wir in die Diskussion über „Ist denn ein Militärputsch besser oder ähnliches “ einsteigen, können wir mit Sicherheit erwähnen und davon ausgehen, dass wir vor der charakteristischen und gefährlichen Diktaturmodells auch vor dem Militärputschversuch gewarnt hatten und diese Gefahr heute noch andauert, sogar nach dem Scheitern des versuchten Staatsstreichs noch mehr an Gewicht zugelegt hat. Diese Diktatur wird sich noch freier fühlen und frei entfalten können. Eine andere wichtige Frage, die beantwortet werden müsste, wäre aber, auch wenn wir von der heute noch herrschenden Regime ausgehen, werden die Menschen, die gelyncht, gemordet, Menschen geköpft und Andere durch Folter ermordet und getötet haben, zur Rechenschaft gezogen, strafrechtlich verfolgt und verurteilt oder nicht? Es sind Morde geschehen, die von Zeugen beobachtet wurden. Diese müssen unter normalen Umständen geahndet und strafrechtlich verfolgt werden. Aber unter dem Umstand muss man natürlich auch bedenken, dass diese Morde auch gefördert wurden.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Aussage des Obersten Beraters des Staatspräsidenten Seref Malkoc, der sagte: „Unsere Bürger sollen die Möglichkeit erhalten, gegen Militärputsche sich legal zu bewaffnen.“
Das beruht auf dem Gedanken, dass, wenn die Institutionen, die über das Waffenarsenal des Staates verfügen, diese Regierung durch Waffengewalt zu stürzen versuchen, diese dann in Zukunft einer anderen bewaffneten Kraft, nämlich der Bevölkerung gegenüberstehen werden. Der An- und Verkauf von Waffen und die Erleichterung dieser Waffengeschäfte, und die Selbstbewaffnung der Bevölkerung ist ein Produkt des Gedanken, der Regierung nahestehenden Kreise und Gruppen auf legale Weise bewaffnen zu können.

DIE WICHTIGSTE LEHRE; DIE ERDOGAN AUS DEN GEZI-PROTESTEN GEZOGEN HAT
Auf die Frage, warum dieser versuchte Staatsstreich misslungen ist, antworten die AKP und die bürgerliche Presse prompt „Das Volk hätte diesen Putsch verhindert.“ War es wirklich das Volk, das diesen Militärputsch verhindert hat? Waren diejenigen, die dem Ruf des Staats- und dem des Ministerpräsidenten gefolgt sind, wirklich deswegen auf die Straßen gegangen, um die Demokratie zu verteidigen?
Als Erstes müssen wir anmerken, dass jeder Putsch das Produkt des Herrschafts- und Machtkampfes innerhalb des Staates ist und aus diesem Machtkampf resultiert. Wenn die Armee der Drahtzieher dessen ist, dann ist das ein leichtes Kinderspiel und verspricht Erfolg zu haben. Die Polizei ordnet sich diesem schnell unter, die Bürokratie steht sofort still. Die Armee stellt den Mechanismus prompt mit Disziplin auf und die Herrschaft wandert in andere Hände. Am 15. Juli hat zumindest die Polizei sich gewehrt. Die Spaltung, die im Parlament, in der Bürokratie, innerhalb der Armee Befehlsführung usw. vorhanden waren, hat die Übernahme des zentralen Apparates und Gerüstes erschwert. Noch wichtiger war es, dass sie einer Masse begegneten, die nicht die Türen verschloss und sich hinter verschlossenen Türen versteckte. Es ist nicht einfach gegen Massen zu schießen. Wir haben auch im Falle Mursi- Sisi in Ägypten beobachten dürfen, dass die öffentlichen Plätze und Straßen sehr effektiv in Anspruch genommen wurden. Diejenigen, die die Straßen und öffentlichen Plätze gewannen, gewannen am Ende auch die Macht und Regierung. In unserem Fall hatte die Armee keinesfalls und zu keiner Zeit die Oberhand über die öffentlichen Plätze und Straßen gewonnen und sie war dazu keineswegs in der Lage. Sie konnte also mit der vorhandenen Regierung nicht in diesem Bereich konkurrieren. Es war klar, was Erdogan gemacht hätte, falls so eine Situation eintreffen würde. Er hatte sein Szenario schon fertig in der Hand. Er würde irgendwie die Möglichkeit finden mit dem Volk zu kommunizieren und somit die Bahn und den Weg des Putsches eindämmen… Das hat er auch so geschafft.


Haben die Putschisten denn damit nicht gerechnet?
Ich glaube nicht, dass sie das nicht bedacht haben. Aber sie haben nicht genau das in die Tat umsetzen können, was sie vorhatten, machen zu wollen. Und was hatten sie vor?
Sie wollten Erdogan vernichten. Er stand ganz oben an der Spitze. Nachdem es aber feststand, dass dieses Ziel nicht erreicht werden konnte, haben sie sich rasch wieder aufgelöst.


„Der Putschversuch wurde zurückgedrängt, aber die Gefahr ist noch nicht vorüber!“ Wie können wir diese Aussage verstehen, die dazu dient das Volk auf der Straße zu halten und über die sehr viel spekuliert wird?
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Kräfte, die zu Erdogan halten auf öffentlichen Plätzen halten zu können. Der Grund für die Aussage, dass die Gefahr noch nicht vorüber sei, hat nicht mit der Gefahr oder deren Abwehr zutun. Es ist gerade wichtig, dass Erdogans Anhänger auf der Straße und öffentlichen Plätzen sind. Sie stützen sich auf dieses Slogan, um auch genau das zu erreichen. Erdogan hat ja bis jetzt immer wieder Ortsvorsteher- und Dorfvorsitzendentreffen oder auch Sitzungen mit Kleinunternehmerinnen einberufen und zu diesen Treffen seine Anhängerschaft oder auch die gesellschaftlichen Kräfte aus den Motiven heraus eingeladen, um diese Kreise für seine Ziele und Vorhaben zu gewinnen und mobilisieren zu können. Er benötigt gerade, unabhängig davon, ob es einen Putsch gibt oder auch nicht, eine Kraft, die sich den Straßen grob bemächtigen und auch nicht davor zurückschreckt, rohe Gewalt anzuwenden. Dieser Staatsstreich hat einen sehr wichtigen Beitrag zu diesem Ziel geleistet. Das ist die wichtigste Lehre Erdogans, die er aus den Geziprotesten gezogen hat. Auf diesen Gedanken ist er gekommen, als er sich überlegte, wie er denn in Zukunft einer zweiten Geziwelle begegnen könnte.


WAS ERDOGAN ALS „GESCHENK GOTTES“ BEZEICHNET, TRIFFT UNS UND UNSER LEBEN SEHR HART
Der Militärputsch wurde zwar vereitelt und das ist gut so. Dennoch muss ja die Frage beantwortet werden, was sich danach aber für die in der Türkei lebenden Völker und die Arbeiter und Beschäftigten geändert hat?
Ich kann dazu eigentlich nur sagen, dass wir jetzt schlechter dran sind, als vorher. Wenn wir uns die ganze Lage mit Hinblick auf unsere Forderungen und die zu erreichenden Kampfziele wie z.B. bezüglich der Demokratie, mehr Arbeitnehmerrechte, Frauenrechte, Laizismus und Frieden, die eigentlich so unsere Hauptforderungen sind, dann sehen wir sehr schnell, dass die Aktivitäten und Kämpfe für diese Ziele an Aktualität verloren und verbüßt haben. Zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erleben wir diese Situation. Wenn wir vor den Augen halten, dass Erdogan die Reaktionen gegen den Militärputsch im Rahmen einer Anti-Putschkoalition um sich scharen und vereinen konnte, die eigentlich für uns eine gemeinsame Basis für den gemeinsamen Kampf für die Demokratie ermöglichen und darstellen sollte, dann verstehen wir auch die Lage besser. Wir haben uns somit zurückwerfen lassen und waren dazu nicht in der Lage, uns gemeinsam gegen den Versuch einer totalitären Regime und aber auch dem totalitären Präsidialsystem nicht gebührend entgegenstellen.


Sie meinen also, dass diese Forderung im Gegensatz zu vor dem 15. Juli noch aktueller wurde und dass wir uns mehr anstrengen müssen, um sie zu erreichen?
Genau das. Nach dem 15. Juli gewannen diese Forderungen an Gewicht und wurden aktueller denn je. Das ist so, da wir von Erdogan nicht erwarten dürfen, dass er seine Ziele und Vorhaben nach dem versuchten Staatsstreich nochmal überdenkt und seine früheren Ziele aufgeben würde. Um von ihm das erwarten zu können, dürften wir ja nicht die schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht haben. Ganz im Gegenteil, er wird jetzt umso mehr versuchen, seine Pläne die Demokratie auszuhebeln und eine noch reaktionäre und unterdrückende Staatsmacht aufzubauen und zu vollenden. Er wird versuchen an erster Stelle den Laizismus und alle anderen demokratischen Errungenschaften abzuschaffen. Er leitet gerade die Phase ein, wo er unter dem Vorwand den Staat von den Räuberbanden zu säubern und zu befreien, seine eigene Macht noch weiter auszubauen. Damit zusammenhängend hat er ja auch am Morgen des 16. Juli, am Istanbuler Flughafen, wohin er aus Marmaris geflogen war, erklärt, dass dieser Putschversuch ein „Geschenk Gottes“ sei. Das erklärt ja alles. Wir können genug einschätzen wie „das Geschenk Gottes“ jetzt auf uns einprallen wird. Sein Hauptziel ist es, ein totalitäres Präsidialsystem einzuführen und auszubauen. Dafür wurden die Türen geöffnet. Er wird jetzt alles Mögliche, was in seiner Macht steht, machen und dabei nichts unversucht lassen, diese Schwelle zu überwinden. Dazu gehört auch der Massenterror. Auch ein Bürgerkrieg gehört hierrein, vor dem wir das Land ja immer wieder gewarnt haben. Das ist der Weg. Von Erdogan kann nicht erwartet werden, dass er jetzt die Demokratie einführt und fördert. Alle müssen schleunigst aus ihren Träumen aufwachen, die denken, dass Erdogan jetzt seine Lehren aus diesem versuchten Staatsstreich ziehen wird und das Volk frei atmen lässt. Das wird niemals geschehen.

Ihre Schilderungen stellen somit auch gleichzeitig eine Antwort auf die Schlagzeilen der Medien, die vorgeben, die Demokratie hätte gesiegt…

Ich lasse jetzt die Tageszeitungen Evrensel, Birgün, Özgür Gündem und zum Teil auch Cumhuriyet außen vor und sage: Alle die behaupten, die Demokratie hätte gesiegt, die versuchen die Gefahr einer Diktatur zu verharmlosen und diese Gefahr tot zu schweigen. Die Demokratie oder etwas Ähnliches haben nicht gesiegt. Auch durch die tatkräftige Unterstützung der Hilfe der Putschisten ist das Land einer größeren Gefahr ausgesetzt, als vor dem 15. Juli. Die Forderung nach Demokratie stellt sich jetzt noch dringender denn je.

DIE AUSSAGE, DIE FORDERUNG NACH EINER TODESSTRAFE ABWÄGEN ZU WOLLEN, IST EIN PURE BEDROHUNG

Wie Sie auch wissen, wird auch die Todesstrafe aktuell zum Diskurs gestellt. Was verstehen Sie denn darunter, ohne jetzt darüber spekulieren zu wollen, ob die Todesstrafe überhaupt eingeführt werden kann oder auch nicht oder ob sie überhaupt verwirklicht werden kann, die Reaktion Erdogans und seiner Partei auf diese Forderung diese auch in Erwägung ziehen und abwägen zu wollen? Was würden Sie zu dieser Sachlage sagen wollen?

Die Einführung der Todesstrafe sehe ich sehr kritisch an. Er gibt an, dass auch im Falle einer Gesetzesänderung und der Einführung der Todesstrafe, dass diese dann nicht für die Straftatbestände für die Vergangenheit Geltung erlangen würde, sondern nur für die Straftaten nach der Einführung einer solchen Sanktion gelten könnte. Aber auch, wenn über so ein Strafmaß für die Zukunft diskutiert wird, gerade das zeigt uns ja, wie in der Zukunft von dieser Gewalt Gebrauch gemacht werden soll und wann sie in Anspruch genommen werden kann. Die Einführung der Todesstrafe oder die Forderung seiner Anhänger nach der Einführung der Todesstrafe, stellt in Bezug auf die Zukunft die zweite Bedrohung für uns dar, der wir ausgesetzt werden sollen. Somit stellt sich diese Frage als eine offene und pure Bedrohung des Volkes dar.

SIE HATTEN DIE INFORMATIONEN UND WURDEN ÜBER DEN PUTSCH BENACHRICHTIGT, ABER HABEN NICHTS UNTERNOMMEN, UM DIESEM STAATSSTREICH ZUVORZUKOMMEN UND IHN ZU VERHINDERN

Eine andere Frage, die beantwortet werden muss und bei deren Beantwortung unterschiedliche Szenarien abgespult werden, wäre, wie denn bei einer solch großen „Auflehnung und Erhebung“ die MIT (Nationale Sicherheitsagentur) , die Polizeibehörden etc. erst dann von allem Kenntnis erlangen, nachdem schon innerhalb der Armee alles in Gang gesetzt wurde und auf Hochtouren lief?

Ich denke nicht, dass sie von diesem Staatsstreich nichts wussten. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erstere Möglichkeit wäre, dass sie sich gedacht haben könnten, dass dieser Putschversuch misslingen wird und deswegen haben sie nichts dagegen unternommen und damit ihm den Weg geebnet…


Warum?
Da in dem Fall, wo dieser Putschversucht vereitelt wird, Erdogan als Sieger ausgehen würde und es kann sein, dass sie den Fall, der jetzt eingetreten ist, genauso wie er gerade ist, vorausgedacht und vorausgesehen haben. Diese Situation würde nämlich in ihrem Interesse sein. Es ist auch genauso eingetreten. Aber damit waren große Risiken verbunden. Dass ihm der Weg nicht versperrt wurde, hätte auch dazu führen können, dass der Putsch erfolgreich endete. Sie wären auch mit diesem Resultat nicht klar gekommen.


Zweitens, auch wenn sie über eine genaue Namensliste der Elemente und Kommandanten verfügten, hätten sie diese ohne irgendeinen triftigen Grund nicht ausschalten und abführen können. Wird deswegen darauf Bezug genommen, dass dieser Staatsstreich vor der Tagung des Obersten Militärrates durchgeführt wurde und wird er deswegen als eine “Frühgeburt“ bezeichnet?

Ja, sie könnten ungefähr so gedacht haben: Bis zur Tagung des Obersten Militärrates sollten wir in unsere Zähne beißen, bis dahin müssen wir strammstehen und unsere Vorbereitungen treffen aber zu jetzigen Zeit können wir dagegen nichts Konkretes unternehmen. Auf der anderen Seite wird erklärt, die Putschisten wollten der Verhaftungswelle am 16. und 17. Juli in den späten Nacht- und frühen Morgenstunden zuvorkommen und drückten früher als geplant auf den Knopf. Das mag vielleicht auch so stimmen. In beiden Fällen hatten sie die Informationen gehabt, aber unter Beachtung des einen oder des anderen Grundes haben sie nichts Konkretes eingeleitet, um diesen Staatsstreich zu verhindern. Die zweite Variante überwiegt aber. Die Mechanismen, die sich in den Händen der AKP befanden, wären nicht für den Ausmaß der Säuberung nach dem Putsch ausreichend genug gewesen. AKP sah den Obersten Militärrat als einzigen Apparat an, mit dessen Hilfe sie einen Putschversuch zurückdrängen und zerschlagen konnte.


WURDEN DIE PUTSCHISTEN DENN NICHT SOWOHL VON INNEN ALS AUCH VON AUSSEN UNTERSTÜTZT?

In der Erklärung der Putschisten wird darauf hingewiesen, dass die Regierung Erdogans versuchte den Staat umzustrukturieren und umzuformen und dass sie versuchte, die Demokratie abzusetzen. Sie geben die Versprechung, die Demokratie wieder herstellen zu wollen. Die Geschichte der Türkei zeigt allen aber die zwischen den Staatsstreichen und Demokratien sich befindende tiefe Kluft und macht sie ganz deutlich. Aber um wiederum das auch beantwortet zu haben, die folgende Frage: Kann man mit einem Staatsstreich die Demokratie gewährleisten und herstellen? Was war der eigentliche Grund für diesen Staatsstreich? Der Vorsitzende der HDP (Partei der Völker) Selahattin Demirtas hat diesen versuchten Staatsstreich als „ein Kampf der verschiedenen Cliquen innerhalb des Staates“ bezeichnet und erläutert, dass die Putschisten nicht Demokratie bringen wollten, sondern sich an die Spitze der vorherrschenden antidemokratischen Systems setzen zu wollen. Würden Sie sich dieser Meinung auch anschließen wollen?

Es ist offensichtlich- auch die Geschichte zeigt uns das so-, dass Staatsstreiche nichts gemein haben mit einer Demokratisierung. Jeder weiß, dass die Demokratie nicht durch ein Staatsstreich an die Macht gelangt. Es ist ja ein funktionierender Mechanismus aufgebaut und vorhanden gewesen und die Schritte für ein komplettes Umfunktionieren und Umstrukturieren des Staates waren schon im vollen Gange, so wollte man das unter der Befehlsmacht und Schirmherrschaft der Armee zu Ende führen. Aus diesem Grunde müssen wir diesen Streit, was als ein Streit zwischen den verschiedenen Cliquen bezeichnet wurde, als den direkten Kampf um die Machterlangung verstehen. Demirtas hat in diesem Sinne Recht. Aber den Staat für sich beanspruchen zu wollen, dieses, wer an der Spitze dieses Mechanismus sitzen soll, beinhaltet schließlich auch noch, dass die Beziehungen der Regierenden zu den Regierten überdacht und überarbeitet werden müssen. Das bedeutet im Klartext, einer Regierung, die durch demokratische Wahlen an die Macht kommt, die durch zahlreiche Stimmen gewählt wurde, die Regierungsmacht durch Waffengewalt entreißen zu wollen, sehr problematisch und kritisch betrachtet werden muss. Das ist nach meiner Einschätzung eines der Hauptursachen dafür gewesen, dass den Staatsstreich zum Scheitern verurteilte. Denn jeder Staatsstreich muss mindestens zwei Aspekte beachten. Der Erstere wäre, dass die innere Öffentlichkeit auf die Durchführung einer entsprechenden Maßnahme vorbeireitet ist. Die Massen müssten den Gedanken haben und verfolgen: „Wir müssen diese Regierung endlich loswerden! Sie muss, egal wie das auch geschehen mag, um jeden Preis weg“. Die Putschisten hatten so eine Anerkennung und Stütze innerhalb der Bevölkerung aber überhaupt nicht gehabt.


War das aber dennoch nicht so gewesen, dass insbesondere unter laizistischen Kreisen die Stimme lauter wurde: „Er soll um jeden Preis abgesetzt werden, egal wie?
Aber wenn die Voraussetzungen dafür nicht geschaffen werden und reif sind, um diesen Wunsch äußern zu können, dann ist dieser Schritt nicht effektiv genug. Es gab eine Regierung, die die Medien erobert hatte und für sich in Anspruch nahm, alle Fernsehkanäle, alle Zeitungen standen unter der Propagandalinie der Regierung und die anderen Bereiche der Gesellschaft konnten ihre Stimme nicht erheben und waren dazu nicht in der Lage, sich Gehör zu verschaffen. Die herrschende Sicht war, dass die Regierung seitens der Mehrheit getragen und unterstützt wurde.


War das der Grund dafür, dass die gesellschaftlichen Bereiche, von denen man angenommen hatte, sie würden den Staatsstreich unterstützen und mittragen, diese Unterstützung verwehrten?

Denn insbesondere dann, wenn wir uns die Erklärung des Staatsstreiches näher anschauen, dann sehen wir, dass die Putschisten behaupten, „sie wären Kemalisten, sie würden für die Grundprinzipien der Republik einstehen, sie wären laizistisch, wären Anhänger des Westens und der Moderne“. Sie sind zumindest mit einer entsprechenden ideologischen Haltung angetreten…

Ja, aber dennoch hätte das nicht zu einer euphorischen Zustimmung und Unterstützung geführt. Es ist ein Potenzial, welches sich objektiv nicht gezeigt hat. Aus diesem Grunde war auch die innere Öffentlichkeit auf so ein Staatsstreich nicht vorbereitet. Der Putsch verfügte über keine derartige Stütze. Zweitens kommt noch hinzu, dass es nicht so aussah, als ob dieser Staatsstreich auch vom Ausland eine entsprechende Unterstützung zugesagt bekommen würde. Das heißt, sowohl im Inneren als auch im Ausland, also weder die USA, noch die NATO hatten diesen Staatsstreich organisiert, ( in der Erklärung des Staatsstreichs wird zwar die Treue und Loyalität gegenüber der NATO auch bekundet, dennoch wird es keinen Staatsstreich geben können, der das nicht erklärt!) aber ein Staatsstreich ohne die Unterstützung und Mitwirkung der USA und NATO wird in der Türkei keineswegs Aussicht auf Erfolg haben.


Dennoch denken die Schriftsteller, Politikerinnen und nationalistische Kreise nicht wie Sie. Dass die USA gegenüber dem Staatsstreich ein zwiespältiges Verhalten an den Tag legte, wird zur Unterstützung der These ausgelegt „ die USA hätte bei der Organisierung und Durchführung des Staatsstreiches ihre Finger mit im Spiel gehabt.“ Was meinen Sie zudem, wo denn die USA bei diesem versuchten Staatsstreich stand und welche Rolle sie dabei gespielt hat?
Ich vermute, dass die USA versucht hat mehr Zeit zu schinden, um die Lage richtig auswerten und einordnen zu können. Sie hat schließlich diese Zeit für ihre entsprechende Auswertung auch gekriegt. Wäre dieser Staatsstreich anders verlaufen, hätte sie mit Sicherheit auch eine andere Erklärung dazu abgegeben. Der Putsch scheiterte und siehe da, die USA verhält sich auch wiederum anders. Wäre der Putsch erfolgreich gewesen, hätte sie den Staatsstreich passiv unterstützt, um die Kontakte und Zusammenarbeit mit der Türkei weiterhin zu beibehalten zu können. Aber das zeigt uns keineswegs, dass die USA hinter dem Staatsstreich stand und ihn geplant hätte. Um es noch deutlicher zu erklären, wenn die USA einen Staatsstreich durchführen möchte, wird die NATO-Armee das auch konsequent durchziehen und dieses Ziel um jeden Preis auch erreichen. Sie würde sich nicht so verballhornen.

Man sieht es auch als gewichtig an, dass die EU eine ähnliche Rolle und Linie eingenommen hat. Hat die EU auch diese Linie der unter Wahrung eines großen Abstandes „Zusehen und Entscheiden“ eingenommen?
So ist es. Jeder wusste, dass Erdogan von dem Rest der Welt isoliert war und allein stand. Die USA, Europa, Russland, jeder ist für einen Regierungswechsel in der Türkei, weil sie gewisse Interessenkonflikte mit dieser Regierung haben. Das bedeutet aber gewiss auch nicht, dass dieser Staatsstreich in einem direkten Zusammenhang mit ihnen stehen muss. Natürlich haben sie die Lage im eigenen Interesse beurteilt und überdacht und sie mussten sich bei der Beurteilung der Lage auch Zeit lassen, um zu sehen, wer am Ende als Sieger aus dieser triftigen Lage herausgehen würde.


WIR KÖNNEN AUCH BEHAUPTEN, DASS IM RAHMEN DES KURDENKONFLIKTES EINE NEUE PHASE ANFÄNGT

In ihrer Kolumne haben sie einen Artikel unter der folgenden Überschrift „In welcher Sprache wird man am 6. Juli „Verzeiht uns“ sagen?“, geschrieben. Unter Anderem hatten sie in ihrem Artikel die Feststellung getroffen, dass mit dem Ziel „ die Anzahl der vorhandenen Feinde zu verringern“ die Beziehungen zu Israel und Russland einigermaßen wiederhergestellt wurden, auch die Beziehungen zu Ägypten und Syrien wieder aufgenommen werden sollen und dass diese Situation die Regierung dazu zwingen würde, einen neuen Verhandlungsprozess für die Lösung des Kurdenkonfliktes einzuberufen. Wie würden Sie diese Feststellung nach dem jetzigen Staatsstreich beurteilen und korrigieren wollen?

Denn es sind ja gerade an erster Stelle der General der 2. Armee, Adem Huduti und andere hochrangige Kommandanten, die den bewaffneten Kampf gegen die Kurden so nach der offiziellen Einschätzung der Regierung „erfolgreich“ geführt hatten, nach dem gescheiterten Putschversuch verhaftet worden.

Wie wird sich diese Situation auf den Krieg gegen Kurden und auf den Kurdenkonflikt insgesamt auswirken?
In diesem Bereich wird es keine Veränderungen geben. Wieder sich an den Verhandlungstisch setzen zu wollen, kann inhaltlich jetzt vielleicht anders ausgelegt werden, aber das wird unumgänglich bleiben müssen. Ich schätze, dass der Verhandlungsprozess in naher Zukunft wieder aufgenommen wird.
Können Sie näher erläutern, was Sie mit „inhaltlich anders ausgelegt“ werden meinen?

Ich denke in Etwa so, dass es zwei Unterschiede zu früher geben wird. Der Erstere umfasst den Plan einen anderen Verhandlungspartner an den Tisch zu setzen und der zweite wäre die Verhandlungspunkte soweit es geht zurückzudrängen. Dass sie den Verhandlungspartner wechseln wollen, bedeutet im Klartext, dass sie die Verhandlungen nicht mehr mit der PKK weiterführen werden, sondern sich jetzt um die Bildung einer möglichst reaktionären Gruppe von Kurdenvertretern bemühen werden. Sie werden sagen: „ Diese sollen ihre Forderungen aufstellen und nachdem sie das gemacht haben, werden wir mit ihnen verhandeln“. Es gibt natürlich auch die B- Variante. Sie werden auch versuchen Abdullah Öcalan mit an den Verhandlungstisch zu binden. Aber diese Option wäre eine zu sehr schwache Option, die ich aber nicht ganz ausschließen möchte. Aber ich vermute eher, dass Abdullah Öcalan an solch einer Verhandlungsoption nicht interessiert sein wird und unter solchen Bedingungen an derartigen Verhandlungsgesprächen nicht teilnehmen wird. Denn seine Teilnahme unter solchen Bedingungen würde ihn gänzlich schwächen. Aber sie werden diesen Weg auch versuchen. Als Zweitens, werden sie die Verhandlungspunkte neu festlegen und verändern. Sie werden versuchen im Interesse des Staates und der Armee die Frage um die „Lösung des Kurdenkonfliktes“ so staatskonform wie möglich auszulegen. Aber genau das wird nicht zur Beilegung der Kurdenfrage beitragen können. Damit dieser Plan aufgehen kann, muss der Staat gegen die kurdische Befreiungsbewegung und gegen die demokratischen kurdischen Kräfte hart durchgreifen und einer noch härteren Gewalt vorgehen. Ohne diese vollständig zu unterdrücken und zu schwächen, können sie einen solchen Plan nicht durchsetzen. Das scheint auch nicht möglich zu sein, aber sie versuchen es trotzdem…

Meinen sie wie ein Kuratorium für die Städtekommunen etwa?

Ja das meine ich. Die Kommunen zu besetzen, alle gewählten Volksvertreter zu bändigen und neue kommunale Vertretungen zu konstituieren, die auf sie hören werden. Durch Kuratorien könnte das eventuell eine Zeit lang klappen, dennoch müssen sie am Ende etwas Anderes versuchen. Das wäre nämlich jener Schritt, das kurdische Volk durch Belästigungen zum Aufgeben zu zwingen. Das heißt, dass die Kurden am Ende in eine solche Lage gezwungen werden sollen, dass sie sagen: „Es soll endlich eine Lösung her. Das ist auch egal, um welche Lösung es sich handelt.“ Die Schlüsselrolle sollen hierbei die Geschäfts- und Ladenbesitzer, Kleinunternehmer spielen. In den großen kurdischen Städten erfüllen die Ladenbesitzer praktisch jetzt schon diese Rolle und verbreitern eine diesbezügliche Propaganda unter denjenigen Kurden, denen es finanziell gerade einigermaßen gut geht und die keinen Finanzschwierigkeiten ausgesetzt sind und an der Fortführung des Krieges kein Interesse haben. „Wollt ihr wirklich Frieden haben, dann muss Dieses und Jenes passieren und ihr müsst Dieses und Jenes in euren Kreisen erklären und die Anderen überreden.“ Sie wissen, dass sie Kleinunternehmer für ihre Zwecke missbrauchen und gewinnen können. Und wenn sie diese Kleinunternehmer für sich beanspruchen können, denken sie, haben sie auch sehr viel erreicht, um ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen zu können. Aber das, was ich diesbezüglich sehe und auch aus den Zwiegesprächen mit Freunden aus diesen Gebieten mir übertragen wird, ist, dass ein bestimmter Bereich der kurdischen Kleinunternehmer immer noch nicht auf Seiten des Staates steht oder auch eher im Rahmen der Frage eher eine neutrale Position einzunehmen scheint. Wir können natürlich auch hier erwähnen, dass die Linie der friedlichen Kräfte und Friedenskräfte mehr und mehr schwächelt. Natürlich kennen kurdische Politikerinnen diese Situation besser als wir. Aber dieses Problem wird man auch nicht von der Welt schaffen können, indem man es totschweigt. Wir brauchen bessere Maßnahmen und wenn nötig effektivere Manöver, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Das ist sowohl für die bewaffnete kurdische Bewegung, als auch für die zivile politische Bewegung eine neue Phase, in der eine neue Taktik, ein neues politisches Programm, eine neue politische Arbeitsweise nötig werden. Die Grundforderung richtet sich immer noch auf den Frieden. Damit dieser erreicht werden kann, damit ein demokratischer Frieden gewährleistet werden kann, müssen die verlorenen Massen wieder zurückgewonnen werden. Die Forderungen müssen wieder vom Neuen und auf einer überzeugenden Weise und natürlich noch fortschrittlicher aufgestellt sein. Die kurdische Bewegung ist in der Lage dieses auch zu schaffen. Der Staat sieht seine einzige Chance in Provokationen, die genau diese Entwicklung unterbinden sollen. Um diese Provokationen abzuwehren und ihre gleiche und große Stärke nach den Wahlen am 7. Juni zurückzuerlangen, muss sie jetzt den nächsten Schritt tätigen. Der Staatsstreich vom 15. Juli hat auch im kurdischen Lager die dringende Aufgabe gestellt, noch mehr in diese Richtung aktiv zu werden und stärker zu arbeiten. Aus diesem Grunde dürfen wir jetzt sowohl für alle demokratischen Kräfte, als auch für die kurdische Bewegung von einer neuen Phase, die eingebrochen ist, sprechen.

20. Juli 2016 – Tageszeitung EVRENSEL
(Übersetzt aus dem Türkischen von Özgür Metin Demirel)

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