Written by 16:43 TÜRKEI

Ein Erdbeben mit schweren Folgen für kommende Generationen

Düzgün Altun *

Nachdem wir bereits am Abend des Erdbebens einen Sachspendenaufruf gestartet hatten, erlebten wir eine Welle der Solidarität aus allen Teilen der Gesellschaft. In Köln half uns das ganze Stadtviertel, wo unsere Vereinsräumlichkeiten sind, einen LKW mit Sachspenden zu beladen und in die Türkei zu schicken. Nach einigen Tagen bekamen wir die Information, dass die Sachspenden an der Grenze vom türkischen Staat beschlagnahmt und an die Katastrophenschutzbehörde AFAD übergeben wurden. Das war uns bereits vorher klar gewesen, die Erfahrung des Van-Erdbebens vor ca 10 Jahren war uns noch deutlich vor den Augen. Gleichzeitig kam von überall die Nachricht, dass AFAD oder der türkische Rote Halbmond unzuverlässig waren, viele Dörfer und Regionen keinerlei Hilfe erreichte und dass Hilfe und Hilfsgüter ungerecht oder gar nicht verteilt wurden. Deshalb stand für uns von vornerein fest, dass wir uns auf Geldspenden, die direkt und unkompliziert bei den Betroffenen ankommen, konzentrieren werden. So brachten wir einen ersten Teil der Spenden persönlich in die Türkei. Eine größere Delegation wird bald den Rest überbringen.

“Nar Sanat” und “Bir-Tek-Sen” sind 2 zivile Organisationen, die seit zwei Wochen ununterbrochen auf den Beinen sind.

Unser erster Anlaufpunkt in der Türkei war Gaziantep. Als wir über Kahramanmaraş flogen, bot sich uns ein Bild des Grauens. Fast Dreiviertel der Stadt waren zerstört. Der Satz „Nichts ist so, wie es auf dem Bildschirm aussieht“ hat sich leider bewahrheitet. Wir wurden vom Kollegen der „Bir Tek Sen“ (eine kleine unabhängige Textil-Gewerkschaft) vom Flughafen abgeholt und als wir in die Stadt reinfuhren, konnten wir ein stückweit aufatmen, weil sich in Gaziantep, wenn man das sagen darf, die Zerstörung im Vergleich zu den anderen Städten in Grenzen hält. Uns wurde berichtet, dass das Stadtzentrum nicht so stark betroffen war, sondern mehr die Armenviertel. Antep ist eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern und mehr als 500.000 davon sind syrische Geflüchtete. Da liegt es nahe, dass Spannungen zwischen Einheimischen und den Geflüchteten nicht ausbleiben, weil die Regierung diese Stimmung mit ihrer Ausgrenzungspolitik noch mehr anheizt.

Im „Nar Sanat“ („Granatapfel“ Kulturverein) angekommen, sehen wir, wie vor allem junge Menschen dabei waren, Hilfspakete zu packen. Nar Sanat ist in Gaziantep zu einer zentralen Anlaufstelle für Erbebenbetroffene geworden. Der Verein hat einerseits seine Räumlichkeiten für die Koordinierung der Hilfsmaßnahmen geöffnet, andererseits werden von hier aus in 12 Stadtteile Hilfsgüter verteilt. Seit zwei Wochen arbeiten hier Nar Sanat, Bir-Tek-Sen und die Frauengruppe Ekmek ve Gül zusammen. Sogar ein Kinderbetreuungs-/Spielzelt wurde eingerichtet. Unter den Mitgliedern und Aktivisten sind viele Textilarbeiter. Auch junge Syrer sind im Verein aktiv. Gaziantep ist vor allem eine Textilarbeiterstadt und nach Istanbul leben hier die meisten Geflüchteten. Wenn man durch die Stadt läuft, spürt man die erdrückende Stimmung. In der ganzen Stadt sind kleinere Zeltgruppen zu sehen, wo Familien und Bekannte mit bis zu 20 Personen leben. Beim Besuch von syrischen Familien haben wir noch einmal bestätigt bekommen, dass bei ihnen fast keine Hilfe ankommt und sie nicht mal Zelte bekommen. Die Geflüchteten sagen immer wieder, „Wenn der Verein nicht wäre, wüssten wir nicht, was wir machen sollten“. Yaprak Mahallesi, die sich hinter der Antep-Burg befindet, ist eine der alten Siedlungen der Stadt. Viele Häuser in der Nachbarschaft wurden bei dem Erdbeben zerstört oder beschädigt. Die Bürger, mit denen wir sprachen, äußerten ihre Frustration darüber, dass sie ständig davor gewarnt werden, ihre Häuser nicht zu betreten, aber keine Unterstützung für die Unterbringung angeboten wird. Die Menschen sind gezwungen, auf der Straße oder in Ruinen zu leben.

Es war auch ermutigend zu sehen, wie eine kleine Gewerkschaft Bir-Tek-Sen sowohl bei der Verteilung und Organisierung der Hilfsarbeiten mit aller Kraft arbeitete, wie sich auch für die Rechte der Textilarbeiter einsetzte, die wegen des Erdbebens vom Arbeitgeber unter Druck standen, weil sie nicht zu Arbeit gehen konnten. Diese Arbeit leistete Bir-Tek-Sen nicht nur in Gaziantep, sondern auch in Malatya, Urfa und Iskenderun.

Malatya und Iskenderun: “Wo ist der Staat?”

Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg nach Malatya. Die Strecke führt durch Pazarcık und Gölbaşı, dem Epizentrum des Erdbebens. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass entlang der Strecke kein einziges Gebäude unbeschädigt war. Auch in Pazarcık versuchen die Freunde aus Gaziantep Hilfe zu leisten. Als wir am Koordinationszentrum, das von oppositionellen Kräften organisiert ist, ankommen, findet zufällig eine Bezirksversammlung der Partei der Arbeit (EMEP) statt, wo die Betroffenen der Hilfskoordination ihre Bedürfnisse mitteilten. Wir nehmen daran teil. Viele Erdbebenopfer beschweren sich: „Wo ist der Staat? Wo ist AFAD? Warum wird uns nicht geholfen? Was würden wir machen, wenn es euch nicht gäbe?”. Auch in Malatya werden vom Koordinationszentrum aus in andere Stadtteile Hilfsgüter verteilt. Auffallend in Malatya war, dass an der Versammlung viele Erdbebenbetroffene-Frauen teilnahmen. Ein Großteil von ihnen packte selber mit an und half beim verteilen, obwohl sie selber doch so bedürftig waren.

Am dritten Tag fuhren wir nach Iskenderun. Wir fuhren direkt in eine Zeltstadt, wo ca. 1.500 Menschen leben. Es heißt, dass noch weitere 35 dieser Zeltplätze in der Stadt aufgestellt sind. Hier sind verschiedene NGOs aktiv. Dennoch hat AFAD ein Mitspracherecht und will die Kontrolle nicht abgeben. Als am Mittag die Menschen vom Solidaritätszelt ihre Sachen abholten, die sie benötigen und eine Frau in der Schlange uns erzählte „Das ist ein Solidaritätszelt der Partei der Arbeit, hier kannst du immer Hilfe bekommen“, erwiderte ein Polizist, der die Schlange beobachtete: „Das ist ein Zelt des Staates und nicht von jemand anderem”. Die NGOs befürchten, dass ihre Aktivitäten jederzeit verboten werden können und alles, was bisher aufgebaut ist, beschlagnahmt werden kann. Die Befürchtungen sind berechtigt, in vielen anderen Orten sist es schon zu solchen Beschlagnahmungen gekommen.

Die Solidarität muss weitergehen

In der gesamten Erdbebenregion gibt es immer noch Probleme mit Zelten, Wasser und Hygiene. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist schwierig. Im Laufe der Tage wurde deutlich, dass hier nicht nur Inkompetenz, Unfähigkeit und mangelnde Koordination vorherrschen, sondern auch Profitmacherei am Spiel ist. Es wurde bekannt, dass die Regierung beispielsweise aus den Zelt- und Lebensmittelverkäufen des Roten Halbmonds Profit schlug und auch bei den Such- und Rettungsaktionen Gewinnabsichten hatte. Es wurde gefordert, dass die Verteilung der vom Volk gespendeten Hilfsgüter an die Katastrophenschutzbehörde (AFAD) übergeben wird und dass AFAD der einzige sichtbare „Akteur“ im Erdbebengebiet sein soll, einschließlich der Rettungs- und Bergungsarbeiten. Diese Haltung verwandelte sich in Behinderungen für oppositionelle Parteien und Organisationen, Gewerkschaften und Berufsverbände, die aktiv Unterstützung im Erdbebengebiet leisteten, und in den letzten Tagen hat sich der Druck verschärft.

Die dringenden Bedürfnisse der Betroffenen bleiben. Der Aufbau der Region wird Jahre dauern. Nach einem Monat sind nicht mal die genauen Zahlen der Verstorbenen und Verletzten bekannt. Die Bewältigung des Traumas dieser Katastrophe bedarf einer Unterstützung mit langem Atem.

* Düzgün Altun ist im Geschaftsführenden Vorstand der DIDF und befand sich mehrere Tage im Erdbebengebiet in der Türkei.

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