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Ein Jahr nach dem Erdbeben: Segen für die Bauwirtschaft

Oktay Demirel

Am 6. Februar -mitten in der Nacht um 04:17 Uhr- erlebten 11 Provinzen im Süden und Südosten der Türkei und einige Kantone im Norden Syriens eine Erdbebenkatastrophe mit zusammen über -offiziell- 60.000 Toten und Hunderttausenden Verletzten und Obdachlosgebliebenen. Die Zahl der Opfer wäre sicherlich viel geringer ausgefallen, wäre nicht am Bau und an den Baugesetzen gepfuscht worden. Dass die Erd- und Nachbeben das Leben von Millionen von Menschen veränderten, lag nicht daran, dass eine „Jahrhundertkatastrophe“ stattgefunden hatte, sondern die maroden Pfuschbauten wie ein Kartenhaus zusammenbrachen und die Menschen unter sich begruben, die im Schlaf überrascht wurden. Doch konnte Präsident Erdoğan die Naturkatastrophe in „Gottes Segen“ umwandeln, sich mit zu hohen Versprechen als der „Macher“ präsentieren und die knappe Wahl, die drei Monate später folgte, erneut für sich entscheiden.

Bausektor und AKP verbandelt

Vor Gericht standen bisher einige wenige Privatpersonen, keinerlei staatliche Vertreter, denen der Pfusch am Bau vorgeworfen wurde. Der Bausektor ist die wichtigste Stütze der türkischen Wirtschaft und damit auch von Präsident Erdoğan und seiner AKP. Über die Jahre ist dieser Sektor stark gewachsen. Baumonopole mit engen Verbindungen in die Politik sind die Regel in der Türkei. Zusätzlich kommen noch Bestechung und Vetternwirtschaft dazu, was zu einem Wildwuchs von Schwarzbauten im ganzen Land führt. Politisch wird das ganze untermauert durch „Bauamnestien“, die im Nachhinein illegal gebaute Häuser oder Zusatzetagen legalisieren. Zuletzt 2018 vor den Wahlen, um noch einige Stimmen einzuholen.

Somit kann man mit Sicherheit sagen, dass die hohe Zahl der Erdbebenopfer „hausgemacht“ wurde. Das thematisierte auch die Partei der Arbeit, EMEP, in 6 Videobotschaften zum Jahrestag der Erdbebenkatastrophe. Die Parlamentsabgeordnete der EMEP, Sevda Karaca, verwies auf die Verteilung von Wohnraum am ersten Jahrestag des Erdbebens seitens Präsident Erdoğan und erklärte, dass sich hinter „den guten Nachrichten“, die Erdoğan in seiner Rede überbrachte, eine große Ausbeutung verberge, dass die Ausschreibungen in den Städten des Erdbebengebiets an AKP-nahe Unternehmen vergeben würden und bei weitem nicht ausreichend Wohnungen fertiggestellt seien, wie versprochen.

„Ausschreibungen an bevorzugte Unternehmen“

Mit Blick auf ihre Heimatstadt Gaziantep, zugleich vom Erdbeben betroffene Provinz, erklärte Karaca, dass mit u.a. Akgün Construction, Gold Construction, May Construction, YDA Construction Unternehmen aus Kapitalgruppen herausstechen würden, die mit der AKP verbunden sind.

Zu den Referenzen von Gold Constructions gehören beispielsweise die AKP-geführte Stadtverwaltung von Gaziantep, das Grundbuchamt und das Katasteramt.

Ebenfalls fällt auf, dass May Constructions und Doğcan İnşaat, zwei der Unternehmen, die bei Ausschreibungen für Katastrophenwohnungen in Gaziantep den Zuschlag erhalten haben, nicht zwei verschiedene Unternehmen sind, sondern zur selben Konzernfamilie gehören. Der eigentliche Eigentümer von May Constr. ist Mehmet Yarka, der AKP-Bürgermeister von Şırnak, der nach seiner Wahl zum Bürgermeister seine Anteile an seine Verwandten Ahmet und Doğukan Yarka übertrug.

YDA Construction unterhält offene Beziehungen zur Regierung und wurde mit dem Bau von 796 Erdbebenhäusern in Antep für 2 Milliarden 563 Millionen 900 TL beauftragt. Karaca dazu: „Der Gesamtwert der öffentlichen Ausschreibungen, die seit 2010 an das Unternehmen von Hüseyin Arslan vergeben wurden, beläuft sich auf 28 Milliarden 99 Millionen 535 Tausend 205 TL. Zu den Gebäuden, die von dem Unternehmen, gebaut wurden, gehört das staatliche Krankenhaus Hatay Defne, das seit seiner Eröffnung mit Überschwemmungen und technischen Problemen auf der Tagesordnung steht.“

„Landwirtschaftliche Flächen für Bauprojekte geöffnet“

Karaca weist ebenfalls darauf hin, dass sich hinter dem Versprechen von Wohnraum für die Erdbebenopfer und dem Diskurs über den Wiederaufbau öffentlicher Gebäude eine weitere große Zerstörung verbirgt, und erklärte, dass landwirtschaftliche Flächen unter dem Vorwand von neuem Wohnraum geopfert und Weide- und Waldflächen per Präsidialerlass für Bauprojekte freigegeben wurden. Karaca erklärte, dass alle Projekte, gegen die sich die Öffentlichkeit in der Vergangenheit gewehrt oder Ärzte und Wissenschaftler davor gewarnt hatten, weil sie die Umwelt zerstören würden, alle petrochemischen Anlagen, Industriezonen usw. unter dem Namen „Erdbebeninvestitionen“ freigegeben worden seien. Neue Grundstücke wurden für organisierte Industriezonen zugewiesen. Die Investoren und Chefs erhielten neue finanzielle Anreize. Ausgrabungen wurden an ökologisch zu schützenden Orten durchgeführt. Hunderte von Bergbaulizenzen wurden nach dem Erdbeben erteilt, die vorher als bedenklich eingestuft wurden.

Hinzu kommt, dass viele Menschen zwar auf die von Erdoğan versprochenen neuen Wohnungen hoffen, doch selbst wenn man per Los eine Unterkunft zugeteilt bekommt, haben diese Wohnungen einen sehr hohen Preis: Oft sind sie weit vom Stadtkern entfernt. Wer sich am Losverfahren beteiligt, muss die Rechte an seinem alten Grundstück aufgeben. Wer dennoch eine der neuen Wohnungen haben will, muss den halben Preis von umgerechnet 25.000 Euro selbst zahlen, die andere Hälfte übernimmt der Staat. Die Alternative ist ein lebenslanger Pachtvertrag – die Wohnungen lassen sich dann aber nicht verkaufen oder vererben. So werden die Opfer genötigt, in ihrer Not Verträge einzugehen und ihre wertvollen Grundstücke den Baumonopolen zu überlassen, die somit doppelt und dreifach profitieren.

EMEP: Recht auf sichere Wohnungen und Stopp der Beschlagnahmungen

Karaca forderte im Namen ihrer Partei, dass die Stadtplanung nicht aus Gründen der Mietwucherung erfolgen sollte, sondern für erdbebensichere, lebenswerte Städte in Übereinstimmung mit dem Recht auf gesunde und sichere Wohnungen. Sie sagte: „Die Vorschriften über die Privatisierung und Beschlagnahmung von öffentlichem Grundbesitz, die Öffnung von Arbeitervierteln für die Kapitalakkumulation und die Verdrängung von Arbeitern aus der Stadt aus den Gebieten, in denen sie leben, sollten zurückgenommen werden.“ Sie fuhr fort: „Gleiche, gesunde und sichere Lebensbedingungen sollten allen angeboten werden, von einer Kommission, an der auch Wissenschaftler, Berufskammern, Universitäten und Gewerkschaften beteiligt sind. Das sind keine Träume. Aber es ist eine Bedingung!“

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