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Eine Lösung der Kurdenfrage geht nicht ohne demokratische Transformation

Ihsan Caralan

Die aktuelle Debatte einiger Politiker in der Türkei über die Kurdenfrage bringt die innerparteilichen Diskrepanzen der HDP und ihre gebrochene Strategiestandfestigkeit zum Vorschein. Letzte Woche machte der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu die Aussage, dass die Lösung der Kurdenfrage im Parlament zu finden sei und dass der Gesprächspartner dafür die Demokratische Partei der Völker HDP sei. Die Reaktionen der alten und neuen Ko-Vorsitzenden der HDP dazu reiben sich. „Der Gesprächspartner sitzt in Imrali“, twitterte der alte Ko-Vorsitzende Sezai Temel und nahm damit Bezug auf den seit Jahrzehnten dort im Gefängnis sitzenden Anführer der kurdischen Organisation PKK, Abdullah Öcalan. Er musste seine Aussage jedoch umgehend damit markieren, dass es sich hierbei um seine persönliche Meinung handelt. Auch wenn er mit der Haltung in der Partei nicht alleine ist, möchten andere Teile der Partei in Folge des Drucks, unter dem die Partei seit Jahren steht, sich von der PKK distanzieren. Der ebenfalls in Haft sitzende ehemalige Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, und der aktuelle Co-Vorsitzende Mihtat Sancar lösten die Spannungen schließlich auf, indem sie Kilicdaroglus Position zustimmten, die Konfliktlösung im Parlament zu suchen. Aus CHP Sicht ist das ein Erfolg, schließlich handelt es sich hier um einen Zug, auf den die Partei schon in der Vergangenheit versucht hat, die HDP aufzusetzen. Für eine Lösung des Konflikts wird das jedoch nicht reichen. In alten Wahlerklärungen spricht die Co-Vorsitzende Pervin Buldan und andere HDP Politiker von der „Vergesellschaftung“ der Kurdenfrage und ihrer Lösung. Das Konzept der Vergesellschaftung macht darauf aufmerksam, dass ausschließlich staatliche Entscheidungsgremien für die Lösung der Kurdenfrage nicht ausreichend sind. In Lösungsprozesse müssten neben den Parteien auch ihre zivilgesellschaftliche Basis, andere außerparlamentarische Organisationen, unter Berücksichtigung des Vielvölkertums des Landes auch unterschiedliche Religionen und Ethnien einbezogen werden und schließlich auch die Kurden und Minderheiten, die nicht von der HDP vertreten werden. Die Idee der „Vergesellschaftung“ findet sich bei der HDP auch bei Fragen des Gesundheitssektors, bei der Frauenfrage bis hin zu Fragen im Bildungsbereich wieder. Jede Frage müsste unter Einbezug der gesellschaftlichen Gruppen angegangen und gelöst werden. Dafür müsste es eine strukturpolitische Transformation geben. So wurde bei Zeiten das Prinzip der „Vergesellschaftung“ das wichtigste Merkmal der HDP-Strategie. Allerdings steht die politische Praxis heute mit dieser Programmatik im Widerspruch. Zu sehr hat sich die HDP selbst auf Verhandlungen mit staatlichen Vertretern beschränkt. Dabei ist die Formulierung eines Demokratisierungsprozesses kein Ziel, dass mit anderen politischen Zielen gleichzusetzen ist, sondern ihre Voraussetzung.

Es muss wieder darüber gesprochen werden, wie die Kurdenfrage nicht nur im Parlament zwischen HDP und dem Rest verhandelt wird, sondern wie ein Lösungsweg zu finden ist, der unter der Teilhabe der breiten Bevölkerungsschichten geschieht. Eine Lösung der Kurdenfrage kann nur Hand in Hand mit einem allgemeinen Demokratisierungsprozess gelingen.

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