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Erdoğans letzte Hürde: Das Verfassungsgericht

Ein juristischer Streit beschäftigt die Türkei auf allen Ebenen. Dabei geht es um nichts fundamentaleres als die Frage, welches Gericht die höchste Entscheidungsbefugnis einer verfassungsrechtlich organisierten Demokratie haben soll. Die Türkische Republik bezeichnet sich als Rechtsstaat mit einer Gewaltenteilung, die „das Wohl und das Leben des türkischen Volkes regeln und die Grundlage für ihr Überleben schaffen soll“. Laut Verfassung bedeutet „die Gewaltenteilung keine Rangordnung der Staatsorgane, sondern ist eine zivilisierte Arbeitsteilung und Zusammenarbeit, die sich auf die Ausübung bestimmter staatlicher Befugnisse und Aufgaben beschränkt und diese Vorrangstellung besteht nur in der Verfassung und den Gesetzen“.

Wie vermutlich jede gesetzliche Regelung in jedem Ort der Welt, kann man auch diese Worte wie Gummi drehen und wenden, bis es einem passt. Genau das nämlich wird in der Türkei von der AKP-Regierung und ihren juristischen Handlangern gerade gemacht, um eben genau diese Verfassung abzuschaffen, die die endgültige Islamisierung des Landes noch verhindert.

In dem „Rechtsstreit“ geht es um Can Atalay, einen gewählten Abgeordneten, der bereits 2013 wegen „Beihilfe zum versuchten Umsturz der Regierung der Republik Türkei im Zusammenhang mit den Gezi-Park-Protesten“ festgenommen und nach mehreren Anläufen 2022 zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde. Während seine Akte nach der Berufung gegen dieses Urteil vor dem Kassationsgerichtshof lag, wurde Atalay bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 zum Abgeordneten für die TIP (Türkische Arbeiterpartei) gewählt. Eine Verurteilung wegen bestimmter Straftaten ist nach türkischem Recht ein Hindernis für eine Parlamentskandidatur, aber da das Urteil bis dahin nicht rechtskräftig war, konnte Atalay dennoch kandidieren, zumindest sah die Wahlkommission darin keinen Grund. Nach seiner Wahl im Mai 2023 wurde ein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens und Freilassung gestellt, da er gemäß Artikel 83 der Verfassung Immunität als Mitglied der Gesetzgebung genieße. Diesem Antrag wurde jedoch nicht stattgegeben.

So läuft ein juristischer Streit zwischen verschiedenen Gerichten hin und her, aber es geht um viel mehr, als nur eine unrechtmäßige Verurteilung eines politischen Gegners. Zuletzt hatte im Oktober das Istanbuler Gericht ein Urteil des Verfassungsgerichts der Türkei missachtet und sich geweigert, den gewählten Abgeordneten auf freien Fuß zu setzen. Stattdessen hatte es den Fall rechtswidrig an das oberste Berufungsgericht für Strafsachen, dem Kassationsgerichtshof weitergereicht (vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof in Deutschland), der sich auch gegen die Freilassung von Atalay aussprach und dem Verfassungsgericht vorwarf, seine Kompetenzen überschritten zu haben. Vom Generalstaatsanwalt wurden die Richter des Verfassungsgerichts sogar wegen Rechtsbeugung angezeigt. Die Richter des Verfassungsgerichts nahmen sich den Fall Atalay Ende Januar erneut vor und entschieden, wie schon im Oktober, für die sofortige Freilassung von Can Atalay. Aber die Gerichte erkannten das Urteil nicht an und das Parlament entließ Atalay als gewählten Abgeordneten, wodurch er keine Immunität mehr genießt.

Präsident Erdoğan wettert bei jeder Gelegenheit gegen das Verfassungsgericht und wirft ihm vor, „bedauerlicherweise würde das Verfassungsgericht ständig Fehler machen“. Das System müsse durch eine neue Verfassung in Ordnung gebracht werden. Und genau das ist der Knackpunkt der ganzen Sache: Seit seiner Wahl, und seit 2010 viel aggressiver, baut Erdoğan das türkische Justizsystem in seinem Sinne Schritt für Schritt um und seit seinem Sieg im Mai 2023 erklärt er regelmäßig, dass die Türkei eine neue „freiheitliche“ Verfassung brauche, deren Ausarbeitung er vom Parlament fordert. Doch die Opposition blockiert -noch- eine Verfassungsänderung durch Nichtbefassung im Parlament. Erdoğan hat selber keine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament und versucht somit allen Mitteln, kleinere Parteien näher an sich zu binden. Und Atalay muss hierbei den Kopf hinhalten.

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