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‚Ermittelt gegen Nazis‘

Alev Bahadir

Am 9. September 2000 wird Enver Simsek an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg von den Nazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die sich gemeinsam mit Beate Zschäpe den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) geben, erschossen. Zwei Tage später erliegt der 38-Jährige seinen Verletzungen. Es folgen Jahre der Schikanen, der Verdächtigungen durch die Polizei, der Verleumdung durch die Medien und Anfeindungen von allen Seiten. Erst 11 Jahre später wird bekannt: Enver Simsek war das erste Opfer des NSU. Am 5. September 2020 hat das Nürnberger Bündnis Nazistopp gemeinsam mit vielen anderen Organisationen dazu aufgerufen, 20 Jahre nach der Tat, Enver Simseks und der anderen Opfer zu gedenken.

Am 9. September 2000 war der NSU bereits seit über 2 Jahren abgetaucht. Damals hatten sie Bombenattrappen gebaut, die sie an zahlreiche Jenaer Institutionen verschickten, aber platzierten auch eine echte Bombe – jedoch ohne Zünder – vor dem Theaterhaus. Am 26. Januar 1998 wurden zwei Garagen des NSU in Anwesenheit Böhnhardts von der Polizei nach Bombenmaterial durchsucht. Als die Polizei nichts fand, durfte Böhnhardt gehen. In einer dritten Garage fanden sie Rohrbomben, TNT, rassistische Publikationen usw. Zwei Tage später wurde durch das Amtsgericht Jena ein Haftbefehl für die Drei ausgestellt. Zu spät. Längst waren sie mit Hilfe des Neonazis und Mitangeklagten im NSU Prozess, Ralf Wohlleben und dem Neonazi und V-Mann Thomas Starke, abgetaucht.

Enver Simsek war Blumenhändler und lebte in Schlüchtern in Hessen. Er war verheiratet mit Adile Simsek und war Vater von Semiya und Abdulkerim, die zu dem Zeitpunkt der Ermordung ihres Vaters noch Teenager waren. An diesem Septembertag sprang Enver Simsek für einen Mitarbeiter an dem Blumenstand ein. Am frühen Nachmittag gaben die Nazis Böhnhardt und Mundlos acht Schüsse auf Simsek ab. Am 11. September verstarb er im Klinikum in Nürnberg. Doch der Albtraum war noch lange nicht vorbei für die Familie Simsek. Denn anstatt im rechten Spektrum zu ermitteln, schikanierte die Polizei – wie später bei den anderen Opfern des NSU auch – die Familie. Adile Simsek erzählte später: „Zu den Polizisten habe ich es dreimal gesagt. Dreimal! Nazis! Ermittelt gegen Nazis! Die Polizei hörte auf andere Leute. Nicht ein einziges Mal haben sie auf mich gehört“. Doch für die Polizei stand fest: Das Opfer müsse in kriminelle Verbindungen verstrickt sein und von der „migrantischen Community“ ermordet worden sein. Die Wohnung der Simseks wurde gestürmt, alles auseinander genommen. Adile Simsek wurde beschuldigt, ihren Mann selbst ermordet zu haben und kriminell zu sein. Die Polizei erfand sogar eine Geliebte und Kinder, mit denen sie Adile Simsek dazu bringen wollten, ihren Mann schlecht zu machen. Doch ihr Vertrauen in ihren Mann war unerschütterlich. All die Beschuldigungen durch die Polizei, die Verunglimpfungen durch die Medien, aber auch, dass viele Menschen all dem glauben schenkten, setzte der Familie zu. Doch besonders Tochter Semiya weigerte sich, zu schweigen und wollte weiterhin Aufklärung. Damit war sie nicht alleine und forderte gemeinsam mit den anderen Familien im Jahr 2006: kein 10. Opfer!

Erst 2011 folgte die unumstößliche Erkenntnis für die Öffentlichkeit: es waren Nazis! Am Morgen des 4. November überfielen Mundlos und Böhnhardt eine Bank in Eisenach. Die beiden flohen auf Fahrrädern in ihr Wohnmobil, wo sie, nachdem sie von der Polizei entdeckt wurden, wohl erweiterten Selbstmord begingen (Mundlos erschoss Böhnhardt und dann sich selbst). Am nächsten Tag lies Beate Zschäpe ihre gemeinsame Wohnung in Zwickau hochgehen und stelle sich nach einigen Tagen der Polizei in Jena. Genau zu dieser Zeit wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz massenweise Akten geschreddert. Knapp anderthalb Jahre nach der sogenannten „Selbstenttarnung“ des NSU begann der Prozess gegen Zschäpe, sowie gegen ihre Mitangeklagten Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und Andre Eminger in München. Die Hoffnung, durch den Prozess Licht ins Dunkel zu bringen, wurde nicht erfüllt. Zschäpe schwieg beständig, bis zu dem Tag, an dem sie eine unglaubhafte Geschichte von sich als unbeteiligtes und abhängiges Opfer der beiden Uwes äußerte. Fünf Jahre dauerte der Prozess, dabei wurde den Verbindungen des NSU zu den Behörden, allen voran des Verfassungsschutzes, nicht nachgegangen.

Nun sind 20 Jahre seit der Ermordung Enver Simseks vergangen und nach dem Ende des Prozesses fordern Organisationen, Initiativen und Vereine, die sich gegen Rassismus engagieren, erst recht Aufklärung. So organisierte das Nürnberger Bündnis Nazistopp am 5. September eine Demonstration zum Gedenken an die Opfer des NSU. An der Veranstaltung, die am Tatort endete, nahmen mehrere hundert Teilnehmer teil. Auch Kutlu Yurtseven, von der Initiative „Keupstraße ist überall“, die an den Bombenanschlag des NSU auf die Keupstraße in Köln erinnert, war anwesend. Genauso auch Seda Başay-Yıldız, die die Familie Simsek in der Nebenklage im NSU Prozess vertreten hat und immer wieder von einer Gruppe von Polizisten, die sich NSU 2.0 nennt, rassistisch bedroht wird. Auch Abdulkerim Simsek sprach im Gedenken an seinen Vater: „20 Jahre ist es her, dass mein Vater tot ist. Es ist ein bedrückendes Gefühl hier zu sein, hier zu stehen und zu wissen, dass mein Vater vor 20 Jahren stundenlang hilflos und schwer verletzt in seinem Transporter lag. Es bedrückt mich und ist schmerzhaft.“ Am 9. September fand in Nürnberg ein weiteres Gedenken statt, bei dem u.a. „Spuren – die Opfer des NSU“ gezeigt wurde. Ein Dokumentarfilm, der die Familien der Opfer begleitete.

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