Written by 20:00 DEUTSCH

Europa rüstet auf

Sinan Köylü

In Europa wird immer weiter aufgerüstet. Während europäische Rüstungskonzerne satte Gewinne einfahren, spricht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von einer „Kriegswirtschaft“. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten steuern auf eine umfassende Militarisierung hin.

Nach einem Bericht des Stockholmer Friedensinstituts SIPRI dürften sich Militarisierungskritiker und Friedensfreunde zumindest über eine Entwicklung freuen: der internationale Waffenhandel ist zwischen den Zeiträumen 2013-17 und 2018-22 um 5,1 Prozent gesunken. Die Zahl kann jedoch schnell täuschen, wenn man die Verteilungen des Waffenimport und -exports ausklammert. So ist bei sinkendem Gesamtvolumen des weltweiten Waffenhandels bezeichnend, dass Europa der einzige Kontinent ist, bei dem ein Zuwachs an Importen zu verzeichnen ist (47 Prozent zwischen 2013-17 und 2018-22). Bei allen anderen Kontinenten sind leichte Rückgänge zu beobachten.

Die Entwicklung in der Verteilung der Abnehmerländer ist auf den ersten Blick nicht überraschend, ist es doch die Ukraine (14. Platz auf Rangliste weltweiter Importnationen), welche insbesondere für westliche Waffenexporte (USA: 34 Prozent, Polen: 17 Prozent, Deutschland: 11 Prozent) ein zunehmend wichtigeres Ziel wird. Trotzdem ist wichtigster europäischer Importeur Großbritannien (13. Platz) mit den Vereinigten Staaten als wichtigsten Exportpartner (81 Prozent), was Beobachter wenig überraschen wird, da sich London seit dem Brexit in immer größere außen-, handels- und geopolitische Abhängigkeit von Washington begeben hat. Die relativ einseitige Aufrüstung der Insel unterstreicht diese Entwicklung. Zudem kündigte der britische Premierminister ein langfristiges Aufrüstungsziel von 2,5 Prozent des BIPs an.

Waffenexporte nach Asien und Ozeanien steigen

Wenden wir das Augenmerk von den Importeuren auf ihre Pendants, so fällt auf, dass Frankreich mit 11 Prozent der weltweiten Rüstungsexporte einen rasanten Anstieg bewältigt hat. Ganze 44 Prozent Steigerung an Waffenexporten zwischen den Fünfjahrintervallen 2013-17 und 2018-22. Damit vergrößert Paris seinen Abstand als Bronzemedaillenträger vor China (5,2 Prozent) deutlich. Hier ist zudem anzumerken, dass knapp die Hälfte der französischen Exporte in die Regionen Asien und Ozeanien wandern. Also gerade jenes Gebiet, welches in Zukunft von immer größeren geopolitischen Auseinandersetzungen erschüttert werden könnte und in welchem Peking Einkreisungstaktiken des Kontrahenten Washington zunehmend selbstbewusst kontert.

Die auffälligen Steigerungen der Waffenexporte Frankreichs verstärken oder beweisen eine Linie, die Präsident Macron bereits vor einiger Zeit als „Kriegswirtschaft“ bezeichnet hat. Die Aufträge der französischen Rüstungskonzerne steigen jährlich und die damit verbundenen Umsatzzuwächse auch, wie das Beispiel Thales, ein französischer Hersteller für elektronische Kriegsführung, ausdrückt. Thales gehört zu einem Viertel dem französischen Staat und plant in diesem Jahr 12.000 neue Beschäftigte einzustellen. Ein Auftragsvolumen von 23 Milliarden Euro ermöglichte dem in Paris beheimateten Unternehmen einen Gewinn von 1,94 Milliarden Euro im letzten Jahr, was eine Steigerung von 15 Prozent bedeutet.

Die Gründe für eine französische „Kriegswirtschaft“ sind wohl vielschichtig. Einen nannte Generalingenieur und Brigadegeneral Alexandre Lahousse auf einer Pressekonferenz des französischen Verteidigungsministeriums. Das in der Revue nationale stratégique vorgestellte Ziel beinhaltet unter anderem, die französische Rüstungsindustrie so zu organisieren, dass eine „lang andauernde Kriegsanstrengung der eigenen Streitkräfte oder zugunsten eines Partners“ ermöglicht werden kann. Das ist natürlich noch nicht jene Form der Kriegswirtschaft, wie wir sie aus den beiden Weltkriegen kennen. Weder ist die Rüstungsindustrie bestimmender Sektor noch werden dieser alle anderen Industriebereiche mehr oder weniger untergeordnet. Doch zeigen die Zuwächse der französischen Rüstungsindustrie und die durch Paris verordneten strategischen Rahmenbedingungen eine Tendenz, die wirtschaftliche Zusammensetzung Frankreichs langfristig an die mit dem Ukrainekrieg verbundenen geopolitischen Umbrüche anzupassen und auf zukünftige Kriege oder Kriegsbeteiligungen vorzubereiten.

Auch in Deutschland läuft die Aufrüstungsmaschinerie 

Derweil versucht die Bundesregierung der von ihrem Kanzler angekündigten Zeitenwende ein wenig mehr Inhalt zu verleihen. Zumindest die Diskussion um die Einführung eines Nationalen Sicherheitsrates in Form einer Zusammenführung von Kompetenzen unterschiedlicher Ressorts zeigt, dass in Deutschland zumindest von einer zunehmenden „Kriegspolitik“ im Bereich der institutionellen Verfasstheit die Rede sein kann. Das Außenministerium um Annalena Baerbock konnte zumindest im Rahmen der beschlossenen Neuen Sicherheitsstrategie die Gründung eines derartigen Sicherheitsrates, wie er in vielen Ländern bereits vorliegt verhindern. Mit diesem wären höchstwahrscheinlich Kompetenzverluste im Außenministerium und Kompetenzgewinne im Kanzleramt und damit eine größere Zentralisation der Entscheidungsfindungen verbunden gewesen. Nichtsdestotrotz soll das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nun offiziell und in die Sicherheitsstrategie Berlins aufgenommen werden. Weiterhin könnte die Strategie eine zukünftige Grundlage für eine China-Strategie darstellen, welche bereits seit längerem in Politik und Medien zur Diskussion steht.

Inwieweit die im Zusammenhang mit der Zeitenwende vorgegebene Strategie realisiert werden kann, wird zumindest für das Fachverwandteste Ressort, das Verteidigungsministerium, nur mit einer realen Aufrüstung der Bundeswehr und der damit zunehmenden Militarisierung Deutschlands einhergehen. Die Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Eva Högl, beschwert sich dabei über die schleppende Verwertung des bereitgestellten Sondervermögens und über eine zu geringe Truppenstärke. Letzteres „Problem“ könnte zur Wiederbelebung der Debatte über die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht führen, die Bundesverteidigungsminister Pistorius bereits vage anschnitt.

Close