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Freundschaftsspiel oder nationalistischer Wettlauf?

Tonguc Karahan

Wie der Erdoğan-Besuch in Deutschland hat auch das „Freundschaftsspiel“ zwischen den Fußballnationalmannschaften beider Länder am 18. November ein breites Echo ausgelöst und einmal mehr die Komplexität der Beziehung zwischen den beiden Ländern offenbart. Die deutsche Nationalmannschaft unterlag mit 2:3, während die türkische Nationalmannschaft, die gut spielte, einen wichtigen sportlichen Erfolg verbuchen konnte. Doch das Spiel, das Anlass für soziologische und politische Diskussionen war, wurde zu einem Instrument, um Vorurteile zu schüren und gleichzeitig zu zeigen, dass Fußball nicht nur ein Sport ist, sondern Grundlage, um nationalistische Stimmung in beiden Ländern zu verbreiten.

Der Besuch von Präsident Erdoğan am 17. November in Deutschland wurde als von Anfang an mit Bauchschmerzen erwartet. Während die deutsche Regierung, die wegen Erdoğans zuvor getätigten Äußerungen über Israel und die Hamas nervös war und nach dem Besuch sehr froh wirkte, den Besuch ohne einen diplomatischen faux pas überstanden zu haben, kehrte Erdoğan mit der Moral des Überlegenen in die Türkei zurück, denn er hatte sein Totschlagargument angebracht: „Wir schulden Israel nicht so viel wie Deutschland“, der sich auf den Holocaust bezog. Die Stellungnahme der deutschen Regierung „ob Erdoğan kommen soll oder nicht“ brachte das problematische Verhältnis zwischen den beiden Staaten auf den Punkt: ‚Ja, er ist ein problematischer, aber unverzichtbarer Partner‘! Da Erdoğan so gesehen wurde, musste Deutschland in den sauren Apfel beißen und die kleinen Tritte und Ellbogenschläge um dieser problematischen Freundschaft willen hinnehmen. Beide Seiten sind aufgrund gemeinsamer Interessen, Verpflichtungen, der internationalen Konjunktur usw. dazu praktisch gezwungen.

Unmittelbar nach dem Besuch sollten wir eine weitere Dimension dieser problematischen Freundschaft erleben, diesmal im Olympiastadion in Berlin: Die Fußballnationalmannschaften Deutschlands und der Türkei trugen ein Freundschaftsspiel aus. Doch das Spiel, bei dem nicht der Sport, sondern die Politik im Vordergrund stand, wurde zum Gegenstand von Vorurteilen und Feindschaft. Nicht die Tore und der gespielte Fußball, sondern die in Deutschland lebenden türkischstämmigen Einwanderer wurden zum Gesprächsthema. Die Nationalisten beider Länder versuchten wieder einmal, die Vorurteile zu schüren, die sie schon immer am Leben gehalten haben. Natürlich geht es nicht nur um dieses Spiel und nicht nur um das Spielfeld. Themen wie Harmonisierung, Diskriminierung, Nationalismus, Polarisierung und Ghettoisierung, die wir am Arbeitsplatz, in der Schule, in den Medien, in der Politik, in allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens erleben, stellen sich uns erneut.

Und dieser Krieg der Polarisierung und der Vorurteile, an dem nicht nur eine Seite, sondern auch die nationalistischen Kreise in beiden Ländern schuldig und verantwortlich sind, ist ein sensibles und tief verwurzeltes Thema, das das Leben sowohl der deutsch- als auch der türkischstämmigen Menschen beeinträchtigt, und gleichzeitig ein Thema, das sowohl die deutsch- als auch die türkischstämmigen Menschen gemeinsam angehen können.

IN DER TAT KANN MAN SAGEN, DASS DEUTSCHLAND GEWONNEN HAT!

Die deutschen Medien haben das 3:2-Ergebnis mit Trauer und die türkischen Medien mit Freude in die Schlagzeilen gebracht, aber es gibt einen überraschenden Widerspruch: Der größte Teil der türkischen Nationalmannschaft, die Deutschland besiegt hat, besteht aus Spielern, die in Deutschland geboren und in der deutschen Infrastruktur ausgebildet wurden. Mit anderen Worten: Deutschland sollte nicht traurig sein, „weil wir verloren haben“, und die Türkei sollte nicht glücklich sein, „weil wir gewonnen haben“! Ein weiteres Beispiel: Der Kapitän der deutschen Mannschaft, die von der türkischen Nationalmannschaft besiegt wurde, ist zufälligerweise Türkeistämmig Und wieder sind es die türkischen Nationalisten, die sich am meisten daran stören. Genau wie im Fall von Mesut Özil, der einst zum „Verräter“ erklärt wurde, weil er lieber für die deutsche Nationalmannschaft spielte, das Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, und dann von türkischen Nationalisten zum Helden und in Deutschland zum „Integrationsbanausen“ erklärt wurde, als derselbe Mesut aufgrund seiner politischen Präferenzen warme Botschaften an Erdoğan und die AKP richtete.

Während sich die türkischen Nationalisten darüber freuen, dass die deutsche Mannschaft dank des Einsatzes junger Menschen, die zumeist in Deutschland aufgewachsen sind, besiegt wurde, kann die andere Seite nicht akzeptieren, dass diese jungen Menschen eigentlich zu ihrer eigenen Gemeinschaft gehören. Und sie regen sich nicht darüber auf, dass die deutsche Nationalmannschaft besiegt wurde, sondern dass die Zahl der türkeistämmigen Zuschauer zu hoch war!

Mit anderen Worten, wenn es um Deutschland und die Türkei geht, sind die Dinge sehr kompliziert, es gibt eine Verflechtung und die Nationalisten auf beiden Seiten haben viele Anknüpfungspunkte! Die so genannten „Expatriates“ in der Türkei sind weder für die eine noch für die andere Seite „günstig“: Die türkischen Nationalisten beschuldigen sie, ‚eingedeutscht‘ zu sein, die deutschen Nationalisten beschuldigen sie, ’nicht deutsch genug‘ zu sein! Beide Seiten ignorieren ihre sozialen Identitäten und soziologischen Realitäten und machen sie gemeinsam zum Material für ihre nationalistische Politik.

Die Interpretation eines sportlichen Erfolges oder Misserfolges in einer Art und Weise, die Länder und ihre Völker gegeneinander ausspielt und sie als Mittel zur politischen Polarisierung einsetzt, ist zweifelsohne keine Besonderheit der Türken und Deutschen. Es liegt in der Natur und Kultur der Nationalisten aller Länder, ohne Ausnahme. Aber in einem Land, in dem drei Millionen türkeistämmige Menschen leben und das Leben mit ihren deutschen Freunden in vielen Bereichen vom Kindergarten bis zur Schule, von der Fabrik bis zum Krankenhaus, vom Stadion bis zur Disco teilen, sind diese nationalistischen Vorurteile und polarisierende Politik viel schmerzhafter. Schlagzeilen, Beschimpfungen im Stadion usw. oder die bei fast jeder Gelegenheit diskutierten Fragen von Zusammenhalt, Integration und Parallelgesellschaft sind natürlich die sichtbare Seite des Bildes.

DER UNIVERSELLE (UN-)CHARAKTER DES NATIONALISMUS

Die Politisierung von Religion und ethnischer Zugehörigkeit sowie die Identitätspolitik sind die aufkommenden Trends und die empfindlichsten Bruchstellen in der heutigen Welt. Wenn wir die Probleme berücksichtigen, die die mehr als 60-jährige Migrationsgeschichte türkeistämmiger Menschen in Deutschland im Hinblick auf das Zusammenleben nicht gelöst, verschoben und angehäuft hat, sind die Schäden des Nationalismus, der die heutige Politik prägt, noch größer.

So kann beispielsweise die Tatsache, dass 55 Prozent der deutschen Bürger,die zur Wahl gegangen sind (!) bei den türkischen Wahlen für Erdoğans Partei gestimmt haben, als ein unverständliches Problem wahrgenommen werden; und da es nicht verstanden werden kann, ist es möglich, kurze, irrationale „Lösungen“ vorzuschlagen wie „wenn du Erdoğan magst, was machst du dann hier, geh zurück in die Türkei“. Genauso wie die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Einwanderern in der Türkei, genauso wie die Nationalisten, die sagen: „Wo kommen diese Syrer und Afghanen her, sie verschlingen den Wohlstand unseres Landes, sollen sie doch zurück in ihre Länder gehen“.

Ob deutsch oder türkisch, der giftige und heuchlerische universelle Charakter des Nationalismus ist allen gemeinsam. So wie die Nationalisten, die auf der einen Seite ihre Wut mit den Worten „die, die nicht hierher passen, sollen gehen“ kundtun und sich auf der anderen Seite die Hände reiben vor Freude darüber, dass der „Wohlstand des Landes“ durch ihre Ausbeutung als billige Arbeitskräfte steigt.

Ja, es wird nicht mühelos und sofort möglich sein, die Wunden zu heilen, die sich über viele Jahre hinweg angesammelt haben und die durch ethnisch-religiöse Diskriminierung, Vorurteile und eine polarisierende Politik, die ständig durch nationalistische Politik angeheizt wird, frisch und blutend bleiben. Aber wir haben dennoch Grund zur Hoffnung. Denn sie haben nicht nur eine deutsche und eine türkische Identität; trotz aller Bemühungen der Politik, sie zu spalten, zu polarisieren und zu parallelisieren, leben sie in diesem Land, zum Beispiel in einer Autofabrik, in einem Krankenhaus, in einem Bergwerk, auf einem Flughafen… als Teil derselben Arbeiterklasse, deren Zukunft und Probleme gemeinsam sind und die keine andere Wahl haben, als sich zu vereinen, trotz aller Hürden und Schwierigkeiten.

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