Written by 12:04 HABERLER

„Geben sie eine Wahlniederlage zu?“

A. Cihan SOYLU

In den letzten Wochen wird immer wieder eine mit Besorgnis verbundene Frage gestellt: „Kann die AKP-Regierung eine Wahlniederlage einräumen und die Macht abgeben?“ Warum diese Frage gestellt wird, ist bekannt: die AKP hat die OB-Wahl in Istanbul angefochten, wo fast ein Fünftel der Wähler in der Türkei lebt. Die Hohe Wahlkommission (YSK) gab ihrem Antrag statt und annullierte die Wahl in Istanbul. Wer sich traut, in sozialen Medien seine Meinung zu sagen, kritisiert diese Entscheidung als „Raub des Wählerwillens“. Die Feststellung, Erdogan und die AKP-Regierung würden niemals durch Wahlen ihre Macht abgeben, ist in diesen Kreisen fast allgemeiner Konsens. Sie gehen davon aus, die Machthaber würden alles unternehmen, um den Kandidaten des AKP-MHP-Bündnisses in Istanbul durchzusetzen. Und sie tauschen sich darüber aus, wie das verhindert werden könnte.

Sicherlich ist diese Besorgnis berechtigt und nicht grundlos. Ein Blick darauf, wie die Erdogan-Regierung bislang mit dem Wählerwillen um- und gegen die Opposition vorging und welcher Mittel sie sich bediente, um jede Wahl um jeden Preis zu gewinnen, macht deutlich, dass diese Befürchtung nicht einer konkreten Grundlage entbehrt. Im Hinblick darauf kann man sagen, dass die Regierungsfront aus Erdoğan-Bahçeli, die den Machtapparat in ihren Händen hat und auch zügellos einsetzt, den Wählerwillen nicht einfach anerkennen wird. Man kann von ihr nicht erwarten, dass sie eine frei politische Haltung akzeptiert und anerkennt.

Unter der Herrschaft des Monopolkapitals ist die Anerkennung von Wahlergebnissen eine Formalie, die mittels bürgerlicher Intrigen zur Aufrechterhaltung seiner Klassendiktatur dient. Solange ihre Machtsansprüche nicht angetastet werden, wird in bürgerlichen Demokratien der Wählerwille akzeptiert. In antidemokratisch oder faschistoid geführten Ländern hingegen wird von der Bevölkerung die Unterordnung und vollständige Anerkennung der Autorität erwartet. In unserem Land haben wird momentan das Letztere umgesetzt und legitimiert. Bahçeli und Erdoğan forderten die Aufhebung der Immunität des Oppositionsführers Kılıçdaroğlu, nachdem er die YSK-Entscheidung scharf kritisiert hatte. Sie gingen auf die Künstler los, die sich mit dem OB-Kandidaten der CHP in Istanbul solidarisiert hatten. Der Kolumnist von „YeniÇağ“ wurde auf offener Straße attackiert und seine geständigen Angreifer gleich wieder freigelassen. Die Führung des Arbeitgeberverbands TÜSIAD, die die YSK-Entscheidung kritisiert hatte, wurde unmissverständlich bedroht und zur Räson aufgerufen. Aus Istanbul werden erste Berichte bekannt, wonach als Gegner des AKP-MHP-Kandidaten bekannte Künstler, Intellektuelle und Journalisten von den Wählerlisten gestrichen wurden. Die Kritik, wonach jegliche Opposition als Landesverrat dargestellt wird, reißt nicht ab. Mit Verleumdungskandidaten soll die Grundlage für eine Schmutzkampagne gegen den CHP-Kandidaten İmamoğlu bereitet werden. Gerüchte werden bekannt, wonach die Regierung Maßnahmen trifft, um am Wahltag die Wahllokale durch Hundertschaften der Polizei zu belagern, die Wähler und Wahlbeobachter einzuschüchtern. So wird unter den Wählern, die fest von einem Wahlbetrug zugunsten des AKP-MHP-Bündnisses ausgehen, Resignation verbreitet.

All das bildet einen Aspekt der Entwicklungen, der die Stärken, Mittel und Möglichkeiten der Machthaber unterstreicht. Er bildet allerdings nur eine Seite der Medaille ab. Auf der anderen Seite sehen wir die Erfahrung und unzählige Beispiele dafür, dass die Herrschenden infolge des Kampfes von Massen ihre Macht abgeben mussten. Wir kennen aus der Geschichte nationalistische, faschistoide und islamistische Machthaber, die alle Andersdenkenden zu Landesverrätern erklärten, die die Regierungspaläste nicht freiwillig räumen, die Macht nicht abgeben, d.h. ihre Klassendiktatur um jeden Preis an der Macht halten wollten. Dass sie die Paläste räumen mussten und längst der Geschichte angehören, verdanken wir den Kämpfen von breiten Massen, die sich von den Mitteln und Möglichkeiten dieser Diktaturen nicht aufhalten ließen.

Auch in der Türkei ist diese massenhafte Kraft vorhanden und heute aktiver als zuvor. Millionen von Arbeitern und Werktätigen, die gegen Arbeitslosigkeit, Armut und dagegen kämpfen, dass die Lasten der Krise auf ihre Schultern aufgebürdet werden, wollen auch nicht hinnehmen, dass sie ihres an der Wahlurne ausgedrückten Willens beraubt werden. Sie wollen vereint dagegen vorgehen und bei der Neuwahl des Istanbuler OB am 23. Juni dem regierenden Bündnis erneut eine Niederlage verpassen. Dass sie sich nicht einschüchtern lassen, stellen sie immer wieder aufs Neue unter Beweis.

Oppositionelle Politiker, Künstler und Intellektuelle lassen sich nicht den Mund verbieten. Interne Querelen in der AKP schwächen die Parteiführung, die bis vor kurzem ihren Widersachern offen drohte und heute wieder den Schulterschluss mit ihnen sucht. Auch die Bemühungen, kurdische Wähler zu besänftigen und mit Zugeständnissen auf die Seite der AKP zu ziehen, führen nicht zum gewünschten Erfolg, weil das nationalistische Bündnis die Kurden in Nordsyrien weiter militärisch bekämpft.

Die Erdoğan-Bahçeli-Front sitzt jedenfalls auf dem absteigenden Ast. Anstatt sich mit der Frage zu beschäftigen, ob sie ihre Wahlniederlage akzeptieren kann und wird, sollten die Arbeiter sich mit aller Kraft in allen Bereichen des Lebens den Kampf forcieren.

Close