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Hände weg von meinem Kind

Nilgün TUNÇCAN ONGAN

Die gesellschaftlichen Proteste gegen den Antrag zum Thema „sexueller Missbrauch“, der über Nacht eingebracht wurde, halten an. Dagegen verteidigt die Regierungsseite den Antrag. Nach Presseberichten könnte der Antrag neu formuliert werden, soll aber auf keinen Fall zurückgezogen werden.

Regierungsvertreter verteidigen, dass es bei dem Antrag nicht um den „Schutz von Vergewaltigern, sondern von Familien” gehe. Darüber hinaus legt der Antrag Zeugnis von einem Verständnis, das nicht den Schutz des Kindes vor Missbrauch vorsieht, sondern die Familie heiligt.

Laut den Erklärungen aus Regierungskreisen umfasst die Regelung nicht die Vergewaltiger, sondern diejenigen Täter, die später ihre Opfer geheiratet haben. Danach würden die Täter, die eigentlich „geheiratet hätten“, allerdings wegen der Rechtslage die Trauung vor dem Standesamt nicht vollziehen konnten, vor „Benachteiligung“ geschützt. Das soll dadurch erreicht werden, dass man die Eheschließung zwischen dem Täter und dem minderjährigen Opfer ermöglicht.

Laut Gesetzt ist die Eheschließung ab 16 Jahren bereits heute möglich. Es geht also bei dem Antrag um Kinder, die jünger als 16 Jahre sind. Wir haben es hier also mit einem Rechtsverständnis zu tun, das Kinder, die im Sinne des Strafgesetzes missbraucht wurden, als „verheiratet“ erachtet. Danach soll der Täter im Falle einer standesamtlichen Eheschließung straffrei bleiben bzw. soll das Urteil ausgesetzt werden.

Auch im Antrag ist die Rede von Kindern, die tatsächlich Opfer vom sexuellen Missbrauch wurden. Dagegen weisen die Regierungsvertreter auf die Definition einer „Sexualstraftat, die ohne das Vorliegen von Gewaltanwendung, -androhung, List oder einem anderen auf den Willen auswirkenden Grund begangen worden ist“ hin und die Kritik als „Verdrehung“ zurück. Ihr Hauptargument ist die so genannte „Einwilligung“.

Danach beruhe die „begangene Sexualstraftat“ – genauso wird es auch im Antrag formuliert – ohne das Vorliegen von Gewalt, List, Drohung etc. auf der Einwilligung der Minderjährigen und/oder ihrer Familie und müsse daher von Vergewaltigung differenziert werden.

Diese Haltung bedeutet die Beseitigung sämtlicher Errungenschaften im Hinblick auf Frauen- und Kinderrechte. Und sie verstößt nicht nur gegen Moral und Ethik, sondern auch gegen alle geltenden Rechtsvorschriften. Denn nach dem Strafgesetz stellen jegliche sexuellen Handlungen gegen Kinder, die das 15. Lebensjahr nicht vollendet haben oder im Falle der Vollendung die gesetzliche Bedeutung bzw. Folgen nicht nachvollziehen können, auch ohne Vorliegen von Gewalt, Drohung, List etc. als eine Missbrauchstat dar. Bei Kindern, die das 15. Lebensjahr vollendet haben oder die gesetzliche Bedeutung bzw. Folgen nachvollziehen können, wird die Straftat des sexuellen Missbrauchs als „sexuelle Tat, die ausschließlich unter Gewaltanwendung, -androhung, List oder einem anderen auf den Willen auswirkenden Grund begangen wurde“ definiert.

D.h. im Rechtssystem ist keine Sexualstraftat vorgesehen, „die ohne das Vorliegen von Gewalt, Drohung, List oder einem anderen auf den Willen auswirkenden Grund“ begangen wird. In allen Fällen des Kindesmissbrauchs wird davon ausgegangen, dass der Wille beeinträchtigt wurde. Mit anderen Worten lässt das Türkische Strafgesetzbuch nicht zu, den Vergewaltiger und „Ehepartner“ auf diese Weise voneinander zu differenzieren.

Die Frage unter Traditionsgesichtspunkten zu erläutern, würde einerseits die Verheiratung von Minderjährigen fördern, andererseits dazu führen, die Sexualstraftat unter Aspekten wie „Ehre“ anzuerkennen und das Opfer zur Heirat mit dem Täter zwingen.

Dabei belegen Studien, dass 9,09 % der Täter die Vergewaltigung damit begründen, das Opfer zur Heirat zu zwingen. Diese traditionelle Sichtweise in den Mittelpunkt einer rechtlichen Regelung machen zu wollen, verheißt für die Zukunft nicht Gutes für Frauen. Auch wenn der Antrag nicht verabschiedet wird…

 

Übersetzung: Mehmet Çallı

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