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Hayatin Sesi: Nach Verbot nun auch Geldstrafe

Serpil Karadoga – Aziz Aslan
Nach dem Vorwurf „Propaganda für eine Terrororganisation zu betreiben“, wurde der türkische Arbeitersender Hayatin Sesi TV vor einigen Monaten verboten. Mit ihr wurden 12 weitere kurdische, Erdogan-kritische und linke Sender, darunter sogar ein kurdischer Kinderkanal, und 11 Radiosender, allesamt mit der gleichen Begründung verboten. Hierbei war das von Staatspräsident Erdogan im Ausnahmezustand höchstpersönlich unterzeichnete Dekret 668 massgeblich entscheidend. Später folgten weitere Medien, politische und philosophische Zeitschriften und sogar eine Kulturzeitschrift. Nun geht die Staatsanwaltschaft einen Schritt weiter und nimmt die Anklageschrift von damals als Beweis dafür, um dem Sender auch noch eine Geldstrafe aufzubürden. Der Prozess soll am 30. März 2017 vor dem 13. Strafgericht in Istanbul starten. Zum Auftakt sollen drei leitende Verantwortliche des Senders vor den Richter geführt werden.

Das Berichten über das IS Attentat in Ankara ist eine Straftat

Die Liveberichterstattung während und nach dem Selbstmordattentat des Islamischen Staates im Oktober 2015 in Ankara wird in der Anklageschrift gegen den Sender als Straftat eingestuft. Der Sender, der über das Attentat berichtete, bei dem 100 Demokraten und Erdogan-Gegner auf einer Friedensdemo getötet wurden, verurteilte an Ort und stelle diesen feigen Anschlag und forderte eine schnelle Aufklärung. Der Sender stellte auch die Frage, warum keine Sicherheitskräfte mehrere Hundert Meter im Umkreis der Explosionen zu sehen waren, als die Bomben explodierten. Immerhin sei es sehr unublich in der Türkei, dass man nicht etliche Polizeikontrollen und -schickane über sich ergehen lassen müsse, bis man denn am Kundgebungsort ankäme. Und diese Aussagen kommen für die türkische Regierung und Justiz dem Straftatbestand, aktive Terrorpropaganda zu machen nahe! In der Anklageschrift wird betont, dass der Sender an diesem Tag trotz des verhängten Sendeverbots zu dem Thema, den ganzen Tag berichtet habe. Die „Beweise“ für die Anschuldigung sind genauso lächerlich: „Propaganda für eine Terrororganisation“ betrieben zu haben, bedeutet in dem Falle 1. das Zeigen von Bildern einer Verletzten Frau, die umhüllt in ein Transparentstoff weggetragen wird, wobei man nicht mal genau erkennt, wessen Transparent das ist, 2. die Bilder , die von einem Handy aufgenommen wurden, als eine Bombe genau in der Menge explodierte, die in einem großen Kreis traditionelle „Halay“ tanzte, 3. Menschen, die nach der Explosion in Panik weg- und umherliefen, um nach Freunden oder Angehörigen zu suchen. Somit erfüllt der Sender laut Staatsanwaltschaft den Straftatbestand, eine Terrororganisation zu unterstützen, in dem er die Panik und das Chaos unzensiert auf die Bildschirme brachte.

Die Reaktion der Bevölkerung zu zeigen, ist ebenfalls eine Straftat
Eine weitere Anschuldigung ist die Berichterstattung über das Attentat am 13. März 2016 in Ankara, bei dem 35 Menschen starben. Dies wird ebenfalls als Propaganda für eine Terrororganisation gewertet. Die Straftat dabei bestehe darin, dass die Angehörigen der Opfer ihren Schmerz und ihre Trauer zur Sprache brachten und dass die Zahl der Opfer genannt wurde. Ein Angehöriger machte seiner Trauer und seinem Verlust Luft, in dem er die Politik der Regierung als die Ursache von Terroranschlägen bezeichnete und den Rücktritt von Verantwortlichen forderte.

Auch der Taksim-Anschlag des IS ist Teil der Anklageschrift
Eine weitere Anschuldigung gegen den TV-Sender ist der Bericht über den IS Anschlag am 19. März 2016 am Taksim Platz, bei dem 4 Menschen starben und 36 Menschen verletzt wurden. In der Anklageschrift steht, dass die Video-Aufnahmen ohne jegliche redaktionelle Bearbeitung und Zensur ausgestrahlt wurden, so dass man Sanitäter, die die Verletzten versorgten, erkennen und sogar Stöhn- und Jauchs-Geräusche der Verletzen hören könne. Und „all dies wurde trotz verhängtem Sendeverbot ausgestrahlt“, so der Vorwurf. Diese Berichte gelten im türkischen Recht als Beweis für den Straftatbestand „Propaganda für eine Terrororganisation“ betrieben zu haben, also in dem Falle für den Islamischen Staat, da deren Ziel, Angst einzujagen, verbreitet worden sei!

Auch über Cizre zu berichten, ist ein Straftatbestand
Ein weiterer Punkt in der Anklageschrift ist ein Bericht, der über die Ausgangssperre in der Region um Cizre handelte . Nach der Einschätzung des Staatsanwalts Fahrettin Kemal, der diese Anklageschrift vorbereitet hat, erfüllt der Sender Hayatin Sesi TV mit all diesen Berichten den vorgeworfenen Straftatbestand, da dort Anwohner die Staatspolitik und stattliche Sicherheitskräfte mit Staatsterror beschuldigen und die Frage stellen, was sie denn gemacht hätten, um im Kugelhagel getötet zu werden.

„Es reicht ihnen nicht zu schließen, sie wollen mehrfach bestrafen“
Die Anklageschrift hat die Rechtsanwältin des Senders, Devrim Avci, in der Tageszeitung Evrensel interpretiert. Ihrer Ansicht nach ist diese Anklage ein Teil der Maßnahmen, welche darauf abzielt, „jede Stimme, die kritisiert, verstummen zu lassen“. Avci betont, dass die Maßnahme, Monate nach der Schließung jetzt auch noch finanziell zu bestrafen, eine weitere Form der Repression sei. Es würde der Regierung nicht reichen, jegliche Kritiker mundtot zu machen, sie wollen wieder und wieder bestrafen und die Menschen auch finanziell ruinieren, nachdem sie ihre Jobs verloren haben.
„Wer für die Inhalte einer Sendung verantwortlich ist, ist in den Gesetzen ganz klar geregelt, entgegen dieser gesetzlichen Regelungen werden auch gegen Mitinhaber des Senders Strafprozesse begonnen. In der Anklageschrift wird nicht einmal erwähnt, für welche Terrororganisation die vorgeworfene angebliche Propaganda gemacht worden sei. Es kann nicht als Straftatbestand gelten, wenn nach einem Attentat berichtet wird, wenn Interviews mit Menschen aus Cizre ausgestrahlt werden, deren Häuser verwüstet und bombardiert wurden. Es kann nicht als Straftatbestand gelten die Aussagen der Angehörigen von Opfern eines Attentats zu zeigen. Kurz, es kann kein Straftatbestand sein, wenn berichtet wird, was die Aufgabe eines Nachrichtensenders ist. Es ist nicht möglich, eine solche Klageschrift zu respektieren.“

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