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Höhere Löhne und bessere Bedingungen für die Beschäftigten

Wir haben mit Geschäftsführerin des ver.di Bezirks Stuttgart Sidar Carman über die Tarifkämpfe im Einzel-und Großhandel gesprochen.

Foto: Privat

Der Tarifstreit im Handel geht weiter. Was sind die Forderungen?
Im Handel führen wir regionale Tarifverhandlungen in gleich zwei großen Branchen. Im Versand- und Einzelhandel und im Groß- und Außenhandel. Über die Forderungsinhalte und Forderungshöhe entscheiden die Tarifkommissionen in den jeweiligen Bundesländern. Betrachten wir den Einzelhandel so verteilen sich die Forderungen zwischen 2,50 Euro mehr Stundenlohn (wie bspw. in NRW) und 15% mehr auf die Tabelle, wie die Kolleginnen und Kollegen in Baden-Württemberg fordern. In einigen Bundesländern fordert ver.di, den Stundenlohn in den unteren Lohngruppen auf 13,50 Euro zu erhöhen. Für den Groß- und Außenhandel fordert ver.di nahezu einheitlich 13% mehr Lohn. Neben deutlichen Lohnerhöhungen geht es auch um die Erhöhung der Ausbildungsvergütungen, die Festschreibung der Laufzeit der Tarifverträge auf 12 Monate sowie die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge. Die Verhandlungen im Einzelhandel befinden sich bereits in der 8. Runde, im Großhandel vor der 5. Je nach Laufzeit der Tarifverträge wartet ein Großteil der Beschäftigten im Handel seit mindestens 4 Monaten auf die dringend notwendigen Lohnzuwächse, um die Reallohnverluste zu stoppen.
Die Arbeitgeberseite reagiert auf die berechtigten und dringend notwendigen Forderungen der Beschäftigten mit Gleichgültigkeit und Verzögerungstaktik. Sie bestehen darauf, dass die Beschäftigten mit Reallohnverlusten konfrontiert bleiben. Bisher bieten bspw. die Arbeitgeber in Ba-Wü Einzelhandel eine prozentuale Erhöhung von 8,4% nach Nullmonaten und verteilt auf 2 Stufen bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Zusätzlich soll eine Inflationsausgleichsprämie von 450 Euro geben. Bereits bezahlte Prämien sollen dabei verrechnet werden. Dieses Angebot geht nicht nur völlig an der Realität der Beschäftigten vorbei, sondern macht deutlich, dass dagegen nur ein entschlossener Arbeitskampf nötig und erfolgreich sein kann.

Wer sind die Beschäftigten, um die es geht?
Die Tarifrunde im Handel bzw. die Tarifrunden im Einzel- und Großhandel betrifft rund 5 Millionen Beschäftigte. Nahezu ein Viertel (24,7 Prozent) aller sozialversicherungspflichtig angestellten Vollzeit-Beschäftigten im Handel verdiente lediglich einen Niedriglohn. Laut einer Sonderauswertung der Bundesanstalt für Arbeit waren 13,5 Prozent der im Lebensmittelverkauf angestellten Beschäftigten auf zusätzliche Aufstockerleistungen (Hartz IV) angewiesen – im DUrchschnitt aller Berufe waren es fünf Prozent. Neben Beschäftigten in den Branchen Verkehr und Logistik, Gastronomie und Baugewerbe sind insbesondere die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel von Altersarmut betroffen. Höhere Löhne und ein Mindestlohn sind somit aktuelle Themen und Forderungen der Beschäftigten im Einzelhandel. Die Struktur der Beschäftigten hat sich im Handel in den letzten 20 Jahren gravierend verändert. Während 2020 noch die Hälfte der abhängig Beschäftigten in Vollzeit arbeitete, sind es heute nur noch 38 Prozent. So werden seit Jahren immer mehr existenzsichernde Vollzeitstellen zugunsten prekärer Beschäftigung zurückgedrängt. Rund 2,37 Millionen Menschen sind derzeit in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis im Einzelhandel angestellt. Von ihnen arbeiten knapp 1,2 Millionen in Teilzeit, weitere 802.000 Menschen sind geringfügig beschäftigt– mit einschneidenden Konsequenzen für Lohn, Gehalt und Rente. Das gilt insbesondere für die Frauen: Insgesamt beträgt ihr Anteil unter den Beschäftigten 64 Prozent, bei der Teilzeitbeschäftigung sind es sogar rund 84 Prozent. Die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich in der mittleren Gruppe (Verkäufer/-innen) beträgt derzeit zwischen 1.993 – 2.832 Euro im Monat. Der Anteil an Migrantinnen ist hoch.
Im Unterschied zum Einzelhandel ist die überwiegende Mehrzahl der Beschäftigten im Groß- und Außenhandel männlich und in Vollzeit beschäftigt. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten lag 2020 bei 74,9 Prozent und damit noch etwas höher als fünf Jahre zuvor. Das Tarifeinkommen für angelernte Angestellte in Nordrhein-Westfalen liegt aktuell bei 2.204 – 2.306 Euro im Monat.
Die Arbeitsbedingungen haben sich immer mehr verschlechtert (Arbeitsbelastung, Stress, Arbeitszeitlage, graue Überstunden). Auch im Groß- und Außenhandel klagen die Beschäftigten über ständig wiederkehrende und oft körperlich belastende Tätigkeiten unter starkem Termin- und Leistungsdruck, oft genug in Schicht-, Wochenend-, Nacht- und Akkordarbeit. Mit der Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel durch die Unternehmer im Jahre 2000 hat sich dieser Wettlauf weiter beschleunigt. Inzwischen sind lediglich nur noch rund 30 Prozent im Handel durch einen Branchen- oder Haustarifvertrag erfasst. 2010 waren es rund 50 Prozent.

Wie ist die Beteiligung der Belegschaften an den Tarifkämpfen?
Jede Branche hat sicherlich ihre eigenen Bedingungen und Besonderheiten. Es ist keine leichte Sache im Handel Arbeitskämpfe zu führen. Wir tun dies in einer Branche, die durch Tarifflucht, Filialschließungen, Niedriglöhne, Befristungen und Teilzeit geprägt ist. Mit der Zunahme von Leiharbeit und Werkverträgen wird die Spaltung innerhalb der Belegschaften größer. Die Mitbestimmung im Betrieb und die gewerkschaftliche Organisierung treffen hier auf aggressive Arbeitgeber. Wir erleben Angriffe auf das Streikrecht durch gerichtliche Klagen, Einschüchterungsversuche und Androhungen mit fristlosen Kündigungen von Streikenden. Das kommt nicht ohne Grund. Denn wir erleben tatsächlich eine höhere Streikbeteiligung in dieser Tarifrunde als zuvor. Der Unmut bei den Beschäftigten wächst, in Zeiten gestiegener Preise und Lebenshaltungskosten plagen viele Existenzängste während die Arbeitgeber sich immer mehr bereichern. Beides zusammen führte zu mehr Bereitschaft, sich am Arbeitskampf aktiv einzubringen. Wir erhalten Berichte über Streikende, die erstmals die Arbeit niederlegen. Bei uns im Bezirk Stuttgart sind Kolleginnen und Kollegen nach mehr als über 10 Jahren wieder aktiv in der Tarifrunde dabei. Die Arbeitgeber bieten weiterhin Reallohnverluste an. Mit ihren bisherigen Angeboten werden die Preissteigerungen in diesem und im nächsten Jahr nicht ausgeglichen. Damit gibt es keine Grundlage für einen möglichen Abschluss. Deswegen werden bis zu den nächsten Verhandlungen ab Ende August die Streiks fortgesetzt.

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