Es waren Widersprüche, die schon lange bestanden und 2025, an die Oberfläche brachen. Nachdem die Selenskyj-Regierung unter dem Vorwand, diese stünden unter russischem Einfluss, versuchte, die beiden Anti-Korruptionsbehörden Nabu und Sap aufzulösen, gingen im Juli dieses Jahres tausende Ukrainer auf die Straßen. Korruption ist ein Dauerthema in der Ukraine und die Regierung nimmt einen großen Teil ihrer Legitimität aus dem Versprechen, für eine demokratischere Ukraine zu stehen. Die beiden Behörden, die aufgelöst werden sollten, wurden nach dem Euro-Maidan 2013 gegründet. Die damalige Regierung, die der russischen Oligarchie nahestand, war aus dem EU-Assoziierungsabkommen ausgetreten. Doch die Mitgliedschaft in der EU und die Annäherung an den Westen symbolisierte für viele die Hoffnung auf eine demokratische, rechtsstaatliche Ukraine. Seit jeher ist der Kampf gegen Korruption ein sensibles Thema und war auch bei Selenskyjs Wahlsieg nicht unerheblich. Auch die breite Unterstützung für den Kurs der Regierung im Krieg ist nicht unabhängig von dieser Hoffnung auf eine andere Ukraine.
Umso brisanter ist natürlich, dass im November dieses Jahres ausgerechnet enge Vertraute und Regierungsbeamte Selenskyjs im Mittelpunkt eines durch die Antikorruptionsbehörden ermittelten Skandals stehen. Es geht um die Bereicherung an Geldern, die zum Schutz des Stromnetzes vorgesehen waren, und zwar in Zeiten, in denen die Ukrainer mit ständigen Stromausfällen zu kämpfen haben. Medien sprechen von einer Bedrohung für die Staatlichkeit in der Ukraine, Selenskyjs Umfragewerte fielen in einigen Statistiken von 60 auf unter 20 Prozent. Die Skandale bringen an die Oberfläche, was vielen Ukrainern ohnehin bewusst ist: Die Ungleichheit, die Bereicherung, die Interessensgegensätze sind auch in Kriegszeiten nicht verschwunden. Dennoch werden sie allzu häufig beiseitegeschoben, um Russland nicht in die Hände zu spielen. So machten auch die Protestierenden im Juli immer wieder klar, dass die Proteste in jedem Fall friedlich bleiben würden: „Es gab einige Leute, die die Amtsenthebung forderten, aber die große Mehrheit wollte nicht so weit gehen.
Klassenkampf in Kriegszeiten
Es ist dieser Widerspruch, in dem sich auch die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften in der Ukraine seit Kriegsbeginn befinden. Sie würden zwei Kämpfe zugleich austragen, heißt es da häufig. Einerseits würde sich gegen den russischen Angriffskrieg verteidigt, andererseits gegen die sozialen Angriffe der Regierung: Unter Kriegsrecht sind seit 2022 Demonstrationen und Streiks verboten. Arbeitsschutzgesetze wurden und werden eingeschränkt. 2025 wurde der zentrale Sitz des größten Gewerkschaftsbundes der Ukraine, der FPU (Föderation der Gewerkschaften der Ukraine), in Kiew beschlagnahmt. Der Präsident, Grygoriy Osovyi, wurde verhaftet. Dabei muss klar sein, dass die Angriffe keineswegs erst seit Kriegsausbruch begonnen haben – vielmehr wird der Krieg genutzt, um die Angriffe auf die Arbeiterklasse zu eskalieren und den Widerstand zu brechen. Konkret berichtet Eisenbahner und Gewerkschafter Oleksandr Skyba aus Darnyzja: Die Eisenbahner seien als Arbeiter in der kritischen Infrastruktur teils vom Kriegsdienst ausgenommen. Aktiven Arbeitervertretern wird jedoch „nahegelegt, den Mund zu halten, wenn man nicht an die Front möchte“. Sonst kann es sein, dass die Unternehmensleitung sie auf den Listen der unverzichtbaren Arbeiter, die sie dem Staat übermittelt, in Zukunft „vergisst“.
Obwohl die Angriffe auf die Arbeiterklasse zugenommen haben, seitdem die Ukraine sich mehr am Westen orientiert, stehen viele Gewerkschaften offiziell an der Seite ihrer Regierung im Kampf gegen den russischen Angriff. „Das Wichtigste ist, dass wir so bald wie möglich Frieden und Sicherheit herstellen, indem wir die russische Aggression besiegen. Danach wird der demokratische Prozess wieder seinen Lauf nehmen“, sagt Petro Tulei, Co-Vorsitzender des zweiten großen Gewerkschaftsbundes KVPU (Konföderation Freier Gewerkschaften der Ukraine), dem Jacobin-Magazin. In einer Pressemitteilung heißt es zu im Krieg gefallenen Mitgliedern: „Sie gaben ihr Leben, damit wir in einem freien Land leben können“.
Natürlich gibt es auch andere Kräfte, die den Krieg nicht unterstützen – diese sehen sich jedoch dem Vorwurf ausgesetzt, Russland in die Hände zu spielen. Zahlreiche von ihnen mussten das Land verlassen, wurden verfolgt, einige ermordet. Die offenen Stimmen gegen den Krieg sind damit auch in der Gewerkschaftsbewegung und vor allem in den deutschen Medien kaum zu hören. Eine von ihnen, Maxim Goldarb, Vorsitzender der seit Kriegsbeginn verbotenen Partei „Union der Linken Kräfte – Für einen neuen Sozialismus“, richtete sich 2024 in einem offenen Brief aus dem Exil an die „Sozialistische Internationale“ (internationaler Zusammenschluss, in dem unter anderem die SPD vertreten ist). Er listete Fälle von verfolgten und verhafteten Linken in der Ukraine auf und forderte internationale Unterstützung ein – der Brief blieb unbeantwortet. Nicht nur seine, sondern auch 12 andere Parteien wurden 2022 verboten. Unter dem Vorwand der Unterstützung der russischen Invasion wurden Kriegsgegner verschiedener Lager ins Visier genommen. Es war auch diese Repression, mit der der Burgfrieden aufrechterhalten werden konnte, den so viele ukrainische Arbeiter seit über dreieinhalb Jahren mittragen – trotz riesiger Opfer.
28 Punkte und ein hoher Preis
Die neuen Korruptionsskandale bergen das Potential, die Unzufriedenheit in die Höhe zu treiben und dem Burgfrieden einen Stoß zu versetzen. Blickt man auf Umfragen in der Ukraine, so zeichnen diese bereits seit Monaten eine Tendenz: Je länger der Krieg andauert, desto mehr Bereitschaft für Verhandlungen und auch die Option von Gebietsverlusten zeichnet sich ab, allerdings tauchen immer wieder Verhandlungslösungen für den Krieg am Horizont auf – und verschwinden dann wieder.
Der zuletzt an die Öffentlichkeit dringende 28-Punkte-Plan der Trump-Regierung soll vorsehen, dass große Teile des östlichen Donbass unter russische Kontrolle geraten, auch diejenigen, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Andere Aspekte sollen die Halbierung der Armee und Russisch als Landessprache sein. Gleichzeitig fordert die EU ein Mitspracherecht über das Kriegsende. Und auch Friedrich Merz steht wieder mit Forderungen an die ukrainische Regierung auf dem Parkett – zuletzt Mitte November, als er Selenskyj aufforderte, die Ausreise junger Ukrainer zu verhindern. Es wird deutlicher als je zuvor, dass die Zukunft der ukrainischen Arbeiterklasse und Jugend überall entschieden wird, aber nicht in Kiew.
Diejenigen, die seit Kriegsbeginn in der Ukraine Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung gefordert und Kriegsgegner mit den Vorwürfen konfrontiert haben, sie würden das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer untergraben, werden sich einige Fragen gefallen lassen müssen: In welchem Szenario hätte eine Arbeiterklasse, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich rapide verschlechtern, deren Organisationen gezähmt oder zerschlagen wurden, die statt von russisch-orientierter heute von westlich-orientierter Korruption bestohlen wird, diese Bevölkerung etwas in diesem Krieg gewinnen können? Und welchem Szenario wäre das hunderttausend Tote wert gewesen?

