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Kann die Türkei in der NATO an ihrem „Veto“ festhalten?

İhsan Çaralan

Die erste Rechnung, die Russland für die versuchte Besetzung der Ukraine bezahlen musste, war das Scheitern seiner Bemühungen, die Selenskyj-Regierung zu stürzen und eine pro-russische Regierung in der Ukraine zu installieren. Somit wurde Russland in der Ukraine – so, wie das vom westlichen Imperialismus, angeführt von den USA und England, auch gewünscht war – in einen Sumpf getrieben, aus dem es sich eine lange Zeit nicht herausretten können wird. Westliche Imperialisten werden die Ukraine weiter mit Waffen, Dollars und Euros unterstützen und auch den Nationalismus jeglicher Couleur fördern, damit dieser Sumpf die Krise und den Krieg mitten in Europa produziert und Russland tiefer hineinzieht. Nach anfänglichem Zögern standen die europäischen Imperialisten Schlange, um die Ukraine in diesem Krieg mit Geld und Waffen zu unterstützen. Je mehr sie erkannten, dass die Ukraine dagegenhalten kann, umso größer wurde ihre Hilfe. Zuletzt genehmigten das Repräsentantenhaus und der Senat in den USA die geplante „Ukraine-Hilfe“ der Biden-Administration, nachdem sie den Umfang von 33 auf 40 Mrd. US-Dollar erhöht hatten. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde das Bild vom strategischen Genie Putins sowie von der legendären, unbesiegbaren russischen Armee beschädigt, was die westlichen Imperialisten gegenüber Russland nun mutiger macht.

DIE ZWEITE RECHNUNG: NATO-BEITRITTSANTRÄGE VON SCHWEDEN UND FINNLAND

Die offiziellen NATO-Beitrittsanträge von Schweden und Russland stellen die zweite Rechnung dar, die Russland für seinen Krieg in der Ukraine ausgestellt wurden.

Eigentlich war unmittelbar nach der Pressekonferenz, auf der Putin seinen Angriffsbefehl aussprach und die Ukraine zu einem „künstlichen Staat, der aufgrund der Fehler von Bolschewiki (Lenin) entstanden ist“ und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einer „schlechten Idee“ erklärte, die Rede von einem Beitritt von Finnland und Schweden in die NATO. Und am 18. Mai 2022 stellten Schweden und Finnland den offiziellen Beitrittsantrag.

Für die westlichen Imperialisten begrüßten diese Anträge mit großer Freude und erklärten, der Beitrittsprozess werde zügig zu Ende geführt. Der US-Präsident Biden empfing den finnischen Staatschef Sauli Niinistö und die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson im Weißen Haus.

Putin gab eine eher verhaltene Antwort darauf: „Sollte sich auf diesen Territorien militärische Infrastruktur ausbreiten, werden wir darauf reagieren.“ Inzwischen hat Russland auch die Erdgaslieferung an Finnland eingestellt.

WIRD AUS DEM „VETO“ ZEITNAH EIN „JA“?

Obwohl die NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland seit über zwei Monaten ein Gesprächsthema ist, hatten sich die Ein-Mann-Herrschaft dazu nicht geäußert. Erst am 15. Mai sagte Erdoğan: „Die Entwicklungen bezüglich Schweden und Finnland verfolgen wir mit, haben allerdings keine positive Meinung dazu. Die skandinavischen Länder verhalten sich quasi als Gastgeber für Terrororganisationen. Die PKK, DHKP-C etc. haben sich in Schweden und den Niederlanden eingenistet und haben es sogar bis in die Parlamente geschafft. Wir können keine positive Meinung dazu haben.“ Mit dieser Erklärung gab er der Debatte eine neue Richtung. Sein Sprecher İbrahim Kalın sagte nach der Erklärung Erdoğans, die Tür sei zwar nicht zugefallen, es sei jedoch offensichtlich, wie es jetzt weitergehen solle: „Sie müssen die Zulassung für die Sender der PKK, ihre Aktivitäten, Organisationen, Mitglieder und jederart von Präsenz beenden.“ Sein Versuch, Erdoğans aufs Ganze gehende Haltung zu relativieren, scheiterte, da sein Chef im gleichen Ton weitermachte.

Es ist bekannt, dass Erdoğan innerhalb kürzester Zeit seinen Standpunkt ändern kann, dass seine mit den Worten „solange ich lebe…“ beginnenden Drohungen im nächsten Moment im Gegenteil enden können. Vor diesem Hintergrund wird es niemanden überraschen, wenn er auch bei diesem Thema umfällt, seinen Widerspruch zurückzieht und aus seinem „Veto“ ein klares „Ja“ wird.

WER STEHT WO BEI DER DEBATTE UM DAS TÜRKISCHE VETO?

Schweden und Finnland reagierten auf die Veto-Androhung der Türkei mit nordischer Coolness. Sie führten die Reaktion der Türkei auf eventuelle „Missverständnisse“ bzw. auf einzelne „falsche Praktiken“ zurück.

Es wurde mitgeteilt, dass Delegationen aus beiden Ländern die Türkei besuchen würden, um anstehende Fragen zu besprechen.

Auch wenn hier auf den ersten Blick der Anschein erweckt wird, es gehe um eine Diskussion zwischen der Türkei einerseits und Schweden bzw. Finnland andererseits, entspricht dies nicht ganz der Wahrheit. Denn tatsächlich ist es eine Diskussion zwischen der Türkei und der NATO bzw. den USA.

Andererseits richtet Erdoğan seine Worte nicht nur an die USA bzw. an Schweden und Finnland, sondern auch an die nationalistischen und radikal islamistischen Kreise in der Türkei. Mit solchen Erklärungen sollen nicht zuletzt diese Kräfte mobilisiert werden.

Dem türkischen Präsidenten geht es hauptsächlich darum, dass erstens die USA den Weg für die Modernisierung bzw. den Verkauf von F-16-Jets ebnen. Es ist bekannt, dass die Biden-Regierung in diesem Sinne aktiv geworden ist. Ferner sollen die USA die CAATSA-Sanktionen zurücknehmen und die Möglichkeiten ausloten, wie eine Beteiligung der Türkei an dem F-35-Projekt wieder ermöglicht werden kann.

Zweiten sollen die Finanzkreise des Westens ihr de-facto-Embargo gegen die Türkei aufheben und ihr den Zugang zu Finanzquellen wieder freimachen.

Allerdings sind sich die USA und andere westliche Imperialisten sowie die Finanzkreise im Klaren darüber, dass die Erdoğan-Regierung momentan einen dringlichen US-Dollar- bzw. Euro-Bedarf hat und eine „lame Duck“ ist, die die kommenden Wahlen höchstwahrscheinlich verlieren wird. Sie drängen auf die beschleunigte Aufnahme der beiden Länder in die NATO, um einerseits eine weitere Verstärkung zu bekommen und andererseits einen weiteren Sieg gegen Russland einzufahren. Allerdings könnten die innenpolitischen Bedenken Erdoğans und sein Versuch, das angedrohte Veto für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren, dazu führen, dass der Westen angesichts der drohenden Wahlniederlage auf die Wünsche von Erdoğan nicht eingeht. D.h. der Poker Erdoğans mit dem „Veto“-Ass im Ärmel könnte erfolglos bleiben und in diesem Fall würden die USA und NATO die Aufnahme Schwedens und Finnlands in Erwartung einer neuen Regierung in der Türkei in die Zeit nach der Parlamentswahl verschieben.

Kurzum: das kommende Jahr wird entscheiden, wie sich die Beziehungen zwischen den westlichen Imperialisten und der Türkei weiterentwickeln und die gegenseitigen Wünsche gestalten werden. Wenn man aber bedenkt, wohin die Ein-Mann-Herrschaft das Land treibt, wird deutlich, dass der Westen eher die Richtung bestimmen wird.

Und wenn man bedenkt, dass Erdoğans Haltung nicht der NATO und ihren Zielen, sondern seinen eigenen kurzfristigen Plänen dient, wird sein mögliches Scheitern umso deutlicher. Auch ein langfristiges Festhalten am Veto wird daran nichts ändern!

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