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Kultursensible Kritik erwünscht

„Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern. Besprich die Situation mit deiner/m Tischnachbarin/Tischnachbarn. Welche Konflikte seht ihr darin?“ Darf so eine Aufgabenstellung in einem Schulbuch stehen oder diskriminiert sie Menschen aufgrund ihrer Kultur oder sollten solche Themen sogar tabu sein, um Klischeeverfestigungen keine Chance zu geben?

Darüber wird gerade in NRW heiß diskutiert. Die Oberstufenschüler eines Siegburger Gymnasiums sollten im Fach Philosophie über dieses Thema diskutieren. Doch schnell fand die Aufgabenstellung den Weg in soziale Medien und sorgte für „Fassungslosigkeit“ und „Empörung“ bei türkischen Elternvertretern. Eine solche Art von Unterricht trüge dazu bei, „dass Klischees in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler verfestigt“ würden oder die Schulaufgabe bediene sich „dem Vokabular rechtsradikaler Populisten“, so die Kritik. Auch in den sozialen Medien wird die Schulaufgabe kontrovers diskutiert. Während die geschilderte Situation auf der einen Seite als Grundlage für eine wichtige Diskussion gewertet wird, die unbedingt geführt werden müsse, verlangen Andere von der Schule, sich von der Aufgabe zu distanzieren oder sich bei „den Türken“ zu entschuldigen. Aus dem NRW-Schulministerium hieß es dazu: „Die konkrete Aufgabe, die Teil eines Schulbuches ist, verstößt gegen das Kriterium der Diskriminierungsfreiheit. Das Ministerium für Schule und Bildung wird das in Rede stehende Schulbuch darüber hinaus intensiv prüfen und den Verlag auffordern, das Schulbuch zu überarbeiten.“ Ministerin Gebauer erklärte: „Die Haltung der Landesregierung ist glasklar: Schulen sind Orte des Miteinanders, an denen es keinen Platz für Ausgrenzung und Vorurteile in welcher Form auch immer gibt.“ Die Bezirksregierung Köln nahm die Schule dagegen in Schutz. Die Aufgabenstellung sei aus einem zugelassenen Schulbuch mit dem Titel „Zugänge zur Philosophie“ übernommen worden. Man bedaure, „dass ein im Unterricht verwendetes Material ohne jeglichen Kontext und vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen den Weg in die sozialen Netzwerke gefunden“ habe. Es sei in der Unterrichtsreihe gerade nicht um Vorverurteilungen und das Schüren von Ressentiments gegangen, sondern ganz im Gegenteil um die „Entwicklung eines kultursensiblen eigenen Sach- und Werturteils im Horizont philosophischer Ansätze“.

Auch die Schulleiterin des Gymnasiums wies die Anschuldigungen zurück. „Heute fegte ein Shitstorm über unsere Schule, der uns sehr getroffen hat. Uns wurde Rassismus und Diskriminierung vorgeworfen“, so schrieb die Schule auf ihrer Webseite. „Schülerinnen und Schüler sollten sich mit Vorurteilen und Stigmatisierung auseinandersetzen und dies in kleinen Gruppen – später in der ganzen Klasse – diskutieren. Dabei konnte der Eindruck entstehen, hier würden Stereotypen bewusst gegen eine Minderheit eingesetzt. Dies ist nicht der Fall, und es wird auch niemals der Fall sein.“ Dennoch entschuldigten sich die Verantwortlichen bei allen, die sich dadurch verletzt fühlen könnten. „Selbstverständlich war das weder die Absicht der Schule noch eines einzelnen Lehrers.“ Das Gymnasium sei seit fast 20 Jahren Mitglied von „Schule ohne Rassismus“, „und das nehmen wir als Auftrag und Verpflichtung ernst. Wir sind eine offene, tolerante und internationale Schule. Das wird so bleiben. Sollte sich jemand wegen seiner Herkunft, sexuellen Orientierung oder Zugehörigkeit zu einer Minderheit benachteiligt oder ungerecht behandelt fühlen: Wir sind da, und wir werden gemeinsam dagegen kämpfen. Immer und für jeden.“

Wichtige Diskussionen, auch über diese Themen, die eine gewisse Reibung oder Konflikte zwischen verschiedenen Kulturen in sich bergen, müssen geführt werden können. Jedoch ist eine gewisse Sensibilität gegenüber kulturellen oder Bevölkerungsgruppen unbedingt zu beachten, damit weder Gefühle verletzt werden können, noch eine Polarisierung stattfindet. Der Sachverhalt der Zwangsverheiratung muss diskutiert und auch kritisiert werden, aber nicht auf Kosten einer bestimmten Gruppe. Das Problem ist nicht verursacht durch das „türkische Volk“, sondern hat ihre Grundlage in patriarchal-kapitalistischer Verhältnisse. Die ethische Diskussion sollte auf dieser Grundlage geführt werden.

 

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