Written by 19:00 HABERLER

Lockdown 2.0

Alev Bahadir

In einer gemeinsamen Sitzung am 13. Dezember haben die Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Merkel mit ihrem Kabinett einschneidende Regelungen bis zum 10. Januar beschlossen. Wenn diese Zeitung herauskommt, befindet sich das Land bereits in einem zweiten Lockdown.

„Längst überfällig“ denken sich sicherlich sehr viele jetzt. Im ZDF Politbarometer vom 10. Dezember haben sich 49 % der Befragten für härtere Maßnahmen ausgesprochen. 35 % fand die Maßnahmen genau richtig und lediglich 13 % empfand sie als übertrieben. Immerhin hat die Infektion mit dem Coronavirus schon längst ganz andere Dimensionen angenommen als noch im Frühjahr. Bis zum 14. Dezember haben sich insgesamt 1.350.000 Menschen mit dem Virus infiziert, 1 Mio. von diesen sind wieder genesen. Über 22.000 Personen sind bereits an oder mit COVID-19 gestorben. Ein Blick auf interaktive Deutschlandkarten, die die Neuinfektionen innerhalb von 7 Tagen anzeigen, zeigt fast nur ein tiefes Weinrot, was für einen Inzidenzwert über 200 steht. Dass es so weit gekommen ist, kann jedoch nur mit den scheinheiligen Maßnahmen erklärt werden, die die Politik im Interesse der Konzerne gefahren hat.

Alle sitzen im gleichen Boot?

Wir erinnern uns an den ersten Lockdown zurück. Große Teile des Lebens wurden komplett heruntergefahren. Soziale Kontakte, kulturelle Aktivitäten, Schule und Universität, all das war ausgesetzt. Manche von uns arbeiteten in dieser Zeit im Homeoffice, andere mussten nach wie vor ins Werk, Krankenhaus oder im Supermarkt arbeiten. Gedankt wurde es mit Klatschen um 21 Uhr vom Balkon oder mit Hashtags. Gegen Lohnerhöhungen etc. setzten sich die Arbeitgeber bei den folgenden Tarifverhandlungen trotzdem ein. Hauptsache es gab einen hübschen neuen Titel: „systemrelevant“. Während Erwachsene arbeiten gehen mussten, mussten Kinder und Jugendliche schauen, wie sie klar kommen. Freizeitangebote gab es nicht, draußen mit Freunden treffen war auch kaum möglich. Entweder sie hatten die technische Ausstattung, um am Onlineunterricht teilzunehmen oder nicht. Entweder sie hatten jemanden, der beim vielen Lernstoff half oder nicht. Entweder sie hatten überhaupt einen Raum, in dem sie in Ruhe Hausaufgaben machen konnten oder nicht. Während viele also auf engstem Raum mit Eltern und Geschwistern aufeinander saßen, erklärten irgendwelche Menschen und Gesundheitsexperten im Fernsehen oder im Internet von ihren Lofts oder Häusern aus, dass wir alle im gleichen Boot sitzen und diese Pandemir zusammen durchstehen würden. Von wegen. Denn es waren die Jugendlichen, die Kinder, Frauen und Werktätigen, die in dieser Zeit auf sich selbst gestellt waren, den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz verloren oder in Kurzarbeit geschickt wurden. Die ohne ausreichend Schutzkleidung arbeiten mussten. Auf der anderen Seite gab es die Unternehmen, wie Amazon, die ihren Umsatz in Deutschland und weltweit extrem erhöht haben. Oder diejenigen Konzerne, die sich über Gewinnrückgang und die „schweren Zeiten“ beschwerten und unter diesem Vorwand massiv Menschen kündigten oder in Kurzarbeit schickten, während parallel Millionen an Aktionäre ausgeschüttet wurde. Dass der Rückgang in der Wirtschaft, allen voran in der Automobilindustrie, sich bereits im 3. Quartal 2019 abzeichnete – also deutlich vor Corona – interessiert hier wohl niemanden. Stattdessen wurde Corona als Grund vorgeschoben, um Billionen (das sind 12 Nullen) an die Unternehmen zu verteilen.

Nur konnte das selbstverständlich nicht für immer so bleiben. So erlebten wir einen Sommer, in dem COVID-19 fast vergessen schien. Die Biergärten öffneten wieder, Zusammenkünfte waren wieder erlaubt, ja sogar der Urlaub außerhalb Deutschlands war wieder möglich. Die Infektionszahlen gingen zurück, die Kurzarbeit blieb. Als im September die Schulen im Regelbetrieb wieder eröffnet wurden, war auch die Maske im Klassenzimmer zu tragen nach kurzer Zeit nicht mehr notwendig. Die „2. Welle“ vor der Virologen im Fernsehen warnten, schien auszubleiben. Doch natürlich tat sie das nicht. Denn plötzlich saßen wir in den Straßenbahnen, in den Klassenzimmern und am Arbeitsplatz wieder aufeinander. Und es kam, wie es bei den Maßnahmen der Regierung kommen musste: die 2. Welle übertraf die 1. bei weitem.

Profit vor Menschenleben

Anders als im März hätte man jetzt auf die Situation vorbereitet sein müssen. Es hätte genug Intensivbetten, genug Schutzkleidung, genug Vorbereitung fürs Homeschooling geben müssen. Doch von alldem ist auch heute noch lange nicht die Rede. Die Schulklassen wurden in vollem Bewusstsein bei voller Größe beibehalten, statt sie zu splitten. Und das alleine aus dem Grund, dass die Eltern weiterhin zur Arbeit gehen und sich nicht um eine Betreuung kümmern können. Die Werke und Betriebe einfach weiter geöffnet gelassen. Stattdessen wurde die Verantwortung für die Verbreitung des Corona-Virus auf die Bevölkerung abgewälzt. Soziale Kontakte wurden eingeschränkt, Kultureinrichtungen geschlossen, Gastronomiebetriebe eingeschränkt und irgendwelche dubiosen nächtlichen Ausgangsbeschränkungen verhängt, um Maßnahmen vorzuzeigen. Und natürlich hat die Einschränkung des sozialen Lebens rein gar nichts gebracht, wenn während weiterhin bis zu 30 Kinder im Klassenzimmer oder Kolleginnen und Kollegen zu tausenden in den Fabrikhallen stehen müssen. Und natürlich gab und gibt es Menschen, die leugnen, dass es so einen Virus gibt und sich unverantwortlich benehmen, dennoch hat der Großteil der Bevölkerung sich an alle Maßnahmen gehalten – das leider oft ohne Kritik. Wenn jemanden für die 22.000 Toten in Deutschland die Schuld trifft, dann sind es die Porsches und Piëchs, die Bezos und die Tönnies, die nur ihr Profit und keine Menschenleben interessieren. Und dann sind es auch die Merkels, Söders und Laschets, die in dieser Zeit deutlich gezeigt haben, wessen Interessen sie wirklich vertreten.

Wir müssen Rücksicht auf unsere Mitmenschen nehmen, den Virus ernst nehmen, aber das bedeutet nicht, dass wir zu allem, was Arbeitgeber und Politik vorgeben, ja und amen sagen müssen. Unsere Probleme, wie Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Bildungsungerechtigkeit, Armut, Wohnungsnot verschwinden nicht während Corona, sondern werden nur verschärft. Deshalb müssen wir auch weiterhin gegen sie kämpfen!

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