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Massenflucht aus Bergkarabach

Taylan Ciftci

Die Massenflucht aus der Bergkarabach-Region hält an. Bis zu 80 Prozent der insgesamt 120000 Bewohner der unabhängigen Republik, die sich zum Jahresbeginn 2024 offiziell auflösen wird, sind bereits ins armenische Staatsgebiet geflohen. Der seit mehr als 100 Jahren andauernde Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien hat bisher Zehntausende Opfer auf beiden Seiten gefordert und scheint zu einem abrupten und beiläufig gesponnenen Ende gekommen zu sein. Die Frage nach dem Status der international nicht anerkannten Arzach-Republik scheint geklärt, der Staat hat kapituliert und seine eigene Auflösung verkündet. Als Pulverfass, um die Groß- und Mittelmächte Russland, Türkei, Iran und der EU herum, behält der Kaukasus eine zentrale Bedeutung als Moment überregionaler Auseinandersetzungen und Konflikte.

Der im Jahr 2020 ausgetragene Krieg um Bergkarabach, aus dem Aserbaidschan siegreich hervorging, zeichnete bereits eine neue Ordnung in der Region. Tausende von Soldaten und Zivilisten fielen dem Krieg zum Opfer, zwei Drittel des Territoriums fielen unter die Kontrolle Bakus, ein Waffenstillstand wurde unter russischer Aufsicht moderiert. Drei Jahre lang wurde das Morden und Sterben fortgeführt, wurde der Waffenstillstand hier und da gebrochen. Im September diesen Jahres überschlugen sich dann die Ereignisse. Auf den von Aserbaidschan am 19. September begonnen „Anti-Terror-Einsatz“ folgte ein Tag später die Kapitulation der Republik Arzach und die Ankündigung der Selbstauflösung bis zum 1. Januar 2024. Was diese Situation insbesondere für die 120000 ethnischen Armenier in der Region bedeutet, ist noch nicht abzuschätzen. Während internationale Beobachter bereits seit längerem vor ethnischen Säuberungen warnen, haben sich weder Russland noch der Westen in den aktuellen Verlauf des Konflikts eingemischt und halten sich noch zurück.

Die Zurückhaltung Moskaus war bereits im drei Jahre zuvor geführten aserbaidschanischen Angriff auf Bergkarabach entscheidend. Obwohl Russland als „Schutzmacht“ Armeniens gilt, hatte sich der Kreml nicht zwischen die Fronten positioniert, um einen Krieg abzuwenden. Die Annäherung Armeniens an die EU und insbesondere an Frankreich unter dem bis heute regierenden Paschinjan wertete Moskau als den Versuch der Untergrabung seiner Autorität im Kaukasus und nutzte Aserbaidschan, um Armenien wieder auf Linie zu bringen. Baku hatte freie Hand, um das militärisch und ökonomisch viel schwächere Armenien nach nur 44 Tagen zu einer Niederlage zu zwingen. Ausgestattet mit türkischer Waffentechnologie und Ausrüstung konnte der aserbaidschanische Präsident Alijew seine Pläne problemlos umsetzen. Die international nicht anerkannte und für die Armenier als Schutzraum geltende Republik Arzach war so seit knapp drei Jahren zunehmend isoliert.

Die Entfremdung zu Moskau verstärkte sich durch die Ankündigung einer mit Washington gemeinsam geführten Militärübung „Eagle Partner“ 2023. In Zeiten des Ukrainekriegs und der damit einhergehenden zunehmenden Konfrontation zwischen Moskau und dem Westen wertete Putin den armenische Versuch zur stärkeren militärischen Zusammenarbeit mit den USA als einen Schlag ins Gesicht. Dass Russland sich der militärischen Unterstützung im von Krieg und Gewalt zerrütteten Bergkarabach enthielt, ist die Quittung für das Abdriften Jerewans aus dem Einflussgebiet Moskaus.

Hat Bergkarabach sowohl für Armenien als auch für Aserbaidschan eine hohe symbolische Bedeutung, treffen mehrere Akteure und ihre Interessen in der Region aufeinander. Für Russland hingegen ist die Kontrolle der Kaukasus-Region als postsowjetischer Hinterhof zentral. In Armenien unterhält Moskau zudem einen Militärstützpunkt. Der Iran wiederum beobachtet die zunehmend intensive militärische Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und Israel kritisch. Bereits vor mehr als zehn Jahren fanden Spekulationen über die Verwendung aserbaidschanischer Flugplätze für israelische Kampfflugzeuge, die über dem Iran fliegen, statt. Dass Teheran eher Armenien unterstützt, ist daher kaum verwunderlich. Brüssel, Paris und Berlin versuchen hingegen nicht zu viel rhetorisches Benzin ins Kriegsfeuer zu schütten. Die Geschäfte mit Aserbaidschan um alternative Gaslieferungen fernab von Russland stehen für die EU im Vordergrund und diese Heuchelei kennen wir aus der EU zu Genüge, wenn es um wirtschaftliche Beziehungen mit autokratischen Regierungen geht.

Müsste man eine vorzeitige Bewertung der Durchsetzung der unterschiedlichen Interessen anstellen, so steht die Türkei aktuell auf der Siegerseite des Konflikts. Ankaras Unterstützung ist ein notwendiges Fundament aserbaidschanischer Außenpolitik. Ohne die wirtschaftliche, politische, diplomatische und militärische Unterstützung des großen türkischen Bruders gäbe es für Baku nur eingeschränkte Möglichkeiten der Handlung. Die Errichtung des Sangesur-Korridors, welcher die Exklave Nachitschewan mit dem aserbaidschanischen Festland und damit türkisches mit aserbaidschanisches Territorium verbindet, ist ein Kerninteresse der geostrategischen und energiepolitischen Stärkung der Turkstaaten. Ankara überlegt ebenfalls einen Militärstützpunkt in Nachitschewan zu errichten und damit seinen militärischen Aktionsradius auszuweiten. Eine geographische Brücke zu Aserbaidschan ist der erste Baustein einer Vernetzung in die zentralasiatischen Turkstaaten.

Moskau ist hingegen bemüht, sich mit Ankara gut zu stellen. Die Moderation des Waffenstillstandes im Jahr 2020 war für Moskau ein Signal, seinem türkischen Pendant die Grenzen seines Handelns aufzuzeigen. Doch braucht Moskau die Türkei als zumindest neutralen Akteur im Ukrainekrieg und der Neuaufteilung der politisch-militärischen Blöcke. Ankara spielt das Spiel geschickt, sich zwischen den Blöcken zu bewegen und parallel den eigenen regionalen Einfluss, insbesondere im Kaukasus und Zentralasien auszubauen. Die Diskussionen um eine BRICS-Mitgliedschaft der Türkei erschweren eine direkte Konfrontation Moskaus mit Ankara und Erdogan spielt seine Karten geschickt aus, um sich die bestmöglichen Vorteile zu erhaschen.

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