Written by 17:00 DEUTSCH

Neue Dekrete von Erdogan sind Freischeine für Lynchjustiz

Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 hat die AKP ihre Macht stark ausgebaut und die Opposition mundtot gemacht. Bereits 5 Tage nach dem Putsch wurde der Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen und seitdem wurde der Ausnahmezustand regelmäßig verlängert. Anfangs versicherten Erdogan und seine AKP, dass dieser Zustand bald aufgehoben würde, aber heutzutage befindet sich die Türkei davon weiter entfernt, als je zuvor. Der Präsident Erdogan kann während des Ausnahmezustandes ohne die Zustimmung des Parlamentes mit „Dekreten mit Gesetzesstatus“ regieren und es wurden seitdem bereits über 30 Dekrete ausgesprochen. Die Themen, die die Dekrete behandeln, zeigen, dass diese Herrschaftsform keine Ausnahme mehr darstellt, sondern mittlerweile zur regulären Herrschaftsform geworden ist.

Mit Dekreten wurden seitdem Hunderttausende Beamte und Angestellte aus dem Dienst entlassen, Akademiker verhaftet, ganze Schulen, Krankenhäuser, Stiftungen und Behörden geschlossen Zeitungen, kritische Medien und Fernsehsender verboten, Streiks von Arbeitern verboten sowie Verhandlungen und Arbeitskämpfe zu Gunsten von Arbeitgebern beendet.

Nun wurden kurz vor Jahresende 2 weitere Dekrete veröffentlicht. Sie beinhalten u.a.

  • 2756 weitere Staatsbedienstete wurden aus dem Staatsdienst entlassen

  • 22 Offizieren wurden ihre Abzeichen abgenommen

  • Häftlinge und in U-Haft befindende, denen Staatsfeindlichkeit, Verfassungsfeindlichkeit, Gewalt gegen Staat und Behörden und bewaffnete Anschläge gegen Polizei, Armee oder den Staatspräsidenten vorgeworfen wird, sollen einheitliche Gefangenenanzüge tragen

  • 17 Einrichtungen (davon 7 Vereine, 7 Stiftungen, 2 Zeitungen und eine medizinische Einrichtung) wurden geschlossen, eine früher mit einem Dekret geschlossene Stiftung wurde wieder zugelassen

  • Das Untersekretariat für die Verteidigungsindustrie wird dem Staatspräsidenten unterstellt. Personalentscheidungen fällt der Präsident selber oder kann diese Aufgabe seinem Untersekretär übertragen

  • Die „Behörde zur Regulierung von Zuckerangelegenheiten“ und „Behörde zur Marktregulierung von Tabak und Alkohol“ wurden geschlossen, ihre Aufgaben dem Landwirtschaftsministerium unterstellt

Der Ausnahmezustand in der Türkei wird von der AKP dazu benutzt, eine Gesellschaft in ihrem Sinne zu formen. Entscheidungen, die durchaus auch vom Parlament gefällt werden dürften, werden vom Präsidenten einfach gefällt. Somit wird die Demokratie, komplett ausgehöhlt. Die Türkei ist längst zu einer Diktatur umstrukturiert worden. Die deutsche Öffentlichkeit und Politik darf nicht wegen wirtschaftlichen und militärischen Eigeninteressen die Augen davor schließen und muss Erdogan und seine AKP vehement in die Schranken weisen. Sämtliche diplomatische und ökonomische Kanäle müssen genutzt werden, damit die Demokratie in der Türkei wiederbelebt werden kann!


Straffreiheit

Kamil Tekin SÜREK

Artikel 121 des Notstandsdekrets mit der Nummer 696 sieht „Straffreiheit für Personen vor, die gegen den Putschversuch vom 15.07.2016 vorgegangen waren“ – unabhängig davon, ob sie einen offiziellen Titel bzw. Auftrag hatten oder nicht. Ferner soll Straffreiheit für deren Taten gelten, die sich auf die Bekämpfung von terroristischen Taten in der Putschnacht und der darauffolgenden Zeit beziehen. Diese Personen können also nicht rechtlich belangt werden.

Wir sehen, dass die Türkei nicht mehr ein Rechtsstaat ist, in dem Gesetze gelten. Denn in einem Rechtsstaat müssen die Gesetze im Einklang mit international geltendem Recht stehen. Allerdings werden in der Türkei Gesetze ohne die Einhaltung der international geltenden Rechtsnormen verabschiedet.

Eine Vorschrift, die Immunität und Straffreiheit vorsieht, müsste zunächst im Parlament und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und eine solche Regelung darf nicht rückwirkend verabschiedet werden. Und eine rückwirkende Straffreiheit, die den Charakter einer Amnestie aufweist, darf nicht ohne eine Verfassungsänderung verabschiedet werden. Die AKP setzt sich über diese Rechtsnormen hinweg und schafft mit ihrer derzeitigen Macht Tatsachen.

Mit dem neuen Dekret werden alle Personen, die sich am Kampf gegen die Gülen-Bewegung beteiligt haben und weiter beteiligen werden, unter Straffreiheit gestellt. Diese Tatsache wird jedoch von AKP-Vertretern verschwiegen. Sie behaupten, die Regelung würde lediglich die Putschnacht und den darauffolgenden Morgen umfassen. Nach Ansicht von Burhan Kuzu, Verfassungsrechtler und AKP-Parlamentarier gilt die Straffreiheit auch für Personen, die zukünftig Putsche bekämpfen werden.

Die Formulierung des Dekrets ist auch hinsichtlich des Tatbestands sehr vage gehalten. Die Tatbestände, die straffrei gestellt werden, würden selbst im Kriegsfalle geahndet. Eine totale Straffreiheit darf es also nicht geben. Räumt die Regelung allen oder nur AKP-Anhängern das Recht auf Tragen von nicht registrierten Waffen ein, wenn sie damit Terroristen bekämpfen? Kann sich nicht künftig jeder darauf beziehen, wenn er bei der Planung einer Straftat ertappt wird?

Kurzum: die AKP hat mit den beiden letzten Dekreten die Verfassung und internationale Rechtsnormen ausgehebelt. Und leider kann niemand die Rechtlosigkeit verhindern. Wer sich ihr entgegenstellt, kann schließlich als Terrorist bekämpft werden.


Menschen werden zu Gewalt ermuntert

Riza Türmen, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte:

„Mit diesem Dekret wird die Rechtsstaatlichkeit verlassen und eine Rückkehr zum Rechtssystem der Frühmenschen vollzogen. Jeder darf jeden töten, weil die neuen Gesetze es zulassen. Die frühere Regelung gewährte den Angehörigen von staatlichen Behörden Straffreiheit für die Taten, die sie im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Putschversuchs begangen hatten. Diese entsetzliche Regelung wird jetzt auch auf Zivilpersonen ausgeweitet. Diese Straffreiheit wird zur Anarchie und zum Chaos führen.

Die Geltungsdauer von Dekreten, die unter dem Ausnahmezustand verhängt wurden, darf die Dauer des Ausnahmezustands nicht überdauern. Wenn das Ausnahmezustandsrecht aufgehoben wird, müsste auch die Gültigkeit dieser Notstandsdekrete enden. Mit den Dekreten und den Gesetzesänderungen arbeitet die Regierung darauf hin, dass das Notstandsrecht auch nach Aufhebung des Ausnahmezustands fortbesteht. Dasselbe gilt auch für die Straffreiheit, die nicht auf die Putschnacht beschränkt. Mit dieser Regelung werden Menschen zur Gewalt ermuntert.”


„Fehlendes Vertrauen in das Rechtssystem wird vertieft“

Erklärung der Richtergewerkschaft:

Die in dem neuen Dekret vorgesehene Erhöhung der Zahl von Richtern am Kassationsgerichtshof um 100 bzw. am Obersten Verwaltungsgericht um 16 weitere Richter kann das Gleichgewicht der Justiz zerstören. Derartige Veränderungen des Rechtssystems per Notstandsdekrete bergen die Gefahr, die Gesellschaft in eine tiefe Krise zu stürzen. Die vorgesehene Straffreiheit für bestimmte Tatbestände ist gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gerichtet. Die vorgesehenen Veränderungen in der Struktur der Hohen Gerichtsbarkeit, in der Strafprozessordnung können zu einem tiefen Riss in der Gesellschaft führen und das fehlende Vertrauen in das Rechtssystem vertiefen. Sie sind geeignet, als Maßnahmen gegen die Gewaltenteilung verstanden zu werden. Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Obersten Verwaltungsgerichts werden in ihren Rechten den Parlamentariern gleich-, allerdings über die Richter an den Gerichten niederer Instanzen gestellt.

Obwohl das türkische Strafgesetzbuch Fälle eindeutig definiert hat, wonach Straffreiheit für bestimmte Tatbestände zu gewähren ist, wird mit der vorgesehenen Ausweitung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen und bietet Nahrung für die öffentliche Diskussion über einen Bürgerkrieg.

Auch die beabsichtigte Einführung von Einheitskleidung für bestimmte Häftlinge bedeutet einen Rückschritt und ist gegen das Gleichbehandlungsprinzip gerichtet. Als Richtergewerkschaft wünschen wir uns ein Land ohne Notstandsdekrete und ein Ende des Ausnahmezustandsrechts, damit das Parlament wieder seinen Auftrag übernehmen kann.“

Close