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Prekarität im Hochschulwesen

Nilgün TUNÇCAN ONGAN

Im Hochschulwesen durchleben wir eine noch nie dagewesene Ära der Zerstörung. Sie ist allerdings nicht auf die Zeit des Ausnahmezustands und auf die Notstandsdekrete beschränkt. Denn die Gesetze, die unter Ausnahmezustand erlassen werden, werden auch die Zeit danach regulieren und prekäre Arbeitsverhältnisse zur Norm erheben.
So wurden z.B. mit dem kürzlich verabschiedeten Gesetz mit der Nummer 7033 (Notstandsdekrete für das Gesetz zur Weiterentwicklung der Industrie und Unterstützung der Produktion) gesicherte Arbeitsverhältnisse für wissenschaftliche Mitarbeiter an Hochschule endgültig abgeschafft.
Zur Erinnerung: in vergangenen Jahrzehnten wurden für wissenschaftliche Mitarbeiter Beschäftigungsstandards eingeführt, die den Weg für ungesicherte Beschäftigung und niedrige Löhne ebneten. Wer in diesem Rahmen als Doktorand eingestellt wird, verliert z.B. mit der Fertigstellung der Doktorarbeit seine Stelle.
Mit der fortschreitenden Umwandlung von Unis in wirtschaftliche Betriebe werden die Hochschulangehörigen immer mehr zu einem „Kostenfaktor“ degradiert. Wer nach Anschluss seiner Doktorarbeit auf seine Weiterbeschäftigung hofft, ist der Willkür der Hochschulleitung ausgeliefert. Der Rektor sucht also „genehme“ Doktoranden aus und setzt „kritische“ Mitarbeiter auf die Straße.
Der Hochschulrat YÖK hatte 2008 beschlossen, diese Bestimmung mit einer formalen Änderung auszusetzen, allerdings die Ungleichbehandlung anhand anderer Regelungen fortzusetzen. Dies wiederum hatte das Hochschulpersonal auf den Plan gerufen, das die Neuregelungen mit einem erbitterten Kampf zurückschlug.
Mit dem Notstandsdekret wird die damals verhinderte Regelung wiedereingeführt und der Willkür sowie ungesicherter Beschäftigung Tür und Tor geöffnet. Mit anderen Worten: die Arbeitsbedingungen der wissenschaftlichen Mitarbeiter an Unis werden auf dem untersten Level „gleichgestellt“ – und zwar ohne Widerstand, weil die kämpferischen Mitarbeiter von 2008 mit einem Dekret im vergangenen Oktober entlassen wurden. Die Prekarisierung konnte also durchgesetzt werden, nachdem man die kämpferischen Hochschulangehörigen als angebliche Unterstützer des Putschversuchs entlassen hatte. Mit den Notstandsdekreten entledigt man sich also nicht nur „missliebiger“ Wissenschaftler, sondern ebnet auch den Weg für weitere Entlassungen.
Aufgrund der Massenentlassungen herrscht inzwischen ein großer Personalnotstand an Universitäten. Dieses Problem versucht der Hochschulrat zu lösen, indem er den verbliebenen wissenschaftlichen Mitarbeitern die Lehrerlaubnis erteilt hat. D.h. die „ausgesuchten und genehmen“ Doktoranden werden nach Abschluss ihrer Doktorarbeit als Dozenten eingestellt – „weniger genehme“ Doktoranden erhalten zwar ebenfalls die Lehrerlaubnis, allerdings zu den oben beschriebenen schlechteren Konditionen. Wer als „missliebig“ gilt, für den ändert sich nichts: er wird nach wie vor in die Arbeitslosigkeit entlassen.

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