Seit dem Sturz des syrischen Assad-Regimes ist die Debatte über syrische Geflüchtete in Deutschland entbrannt. Die einen freuen sich, die anderen bangen.
Dilan Baran
Am 8. Dezember, unmittelbar nach dem Sturz des Assad-Regimes, entbrannte bereits in vielen europäischen Ländern, allen voran in Deutschland und der Türkei, eine Debatte darüber, ob syrische Geflüchtete zurückkehren sollen oder nicht. Rechtsradikale, Faschisten, Rassisten und populistische Parteien, die ihre Stimmen auf dem Rücken von Geflüchteten und Migranten sammeln, sowie die Medien, die ihre Stimme vertreten, sehen keine Grundlage mehr für ihren Aufenthalt hierzulande und fordern, dass alle syrischen Geflüchteten so schnell wie möglich in ihr Heimatland zurückkehren sollten. Diese Forderungen werden weiterhin laut. Viele europäische Länder, an der Spitze Deutschland, haben die Asylanträge von syrischen Staatsbürgern umgehend gestoppt, unabhängig davon, wie sich die Situation in der Region weiterentwickelt. Dies bedeutet, dass Asylanträge künftig (erstmal) nicht mehr akzeptiert werden.
Da in Syrien noch für eine längere Zeit Unsicherheit herrschen wird, erwartet niemand in naher Zukunft eine Massenrückkehr. Sollte sich die Lage jedoch beruhigen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass viele Syrer zurückkehren werden. Genauso viele werden allerdings ihr mühsam aufgebautes Leben in Deutschland nicht aufgeben wollen. Sie werden Syrien zumindest besuchen. Viele von ihnen sehnen sich danach, Familie und Freunde zu sehen, die Orte der alten Heimat aufzusuchen.
SYRISCHE GEFLÜCHTETE: EINE HETEROGENE BEVÖLKERUNGSGRUPPE
Es ist wichtig, nicht alle syrischen Geflüchteten zu homogenisieren. Diese Menschen haben die gemeinsame Motivation, vor dem Assad-Regime, der „Freien Syrischen Armee“ oder dem „Islamischen Staat“ geflohen zu sein, aber sie gehören verschiedenen nationalen, ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen an. Laut den Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind mehr als 60 % der syrischen Geflüchtete, die seit 2015 in Deutschland Asyl beantragt haben, Araber, etwa ein Drittel sind Kurden. Mehr als 90 % sind Muslime, weniger als 2 % sind Christen und etwa 1 % sind Jesiden.
Es ist daher keineswegs verständlich, alle Syrer unter einem Kriterium zusammenzufassen und gleiche Rückkehrbedingungen zu unterstellen. Für Araber, die dem sunnitischen Islam angehören, mag es aufgrund ihrer religiösen Übereinstimmung mit der neuen Regierung weniger Probleme geben. Dies gilt jedoch nicht für Kurden, Aleviten, Christen, Drusen und andere ethnische oder religiöse Gruppen. Für sie bleibt die Gefahr bestehen. Zudem gilt es genauso für zwar sunnitische Syrer, die sich aber der Politik der neuen Regierung gegenüber kritisch äußern und engagieren.
Unter den deutschen Politikern scheint man die Herkunft der neuen syrischen Führung bei aller Freude über den gestürzten feindlichen Staatsführer Assad allerdings schnell vergessen zu wollen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sprach von neuer Hoffnung für das syrische Volk. Die Hilfe für potenzielle Not wolle sie ausgerechnet mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erörtern. Dieser greift mit seiner Armee derzeit die kurdische Autonomieregion Rojava in Syrien an, pflegt aber gute Kontakte zur islamistischen Gruppe HTS, die derzeit in Damaskus das Sagen hat und die sowohl von den USA, als auch von Deutschland und der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird.
SYRER IN DEUTSCHLAND UND IHRE BEDEUTUNG ALS QUALIFIZIERTE ARBEITSKRÄFTE
Laut den offiziellen Daten des UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) lebten vor Beginn des Krieges 2011 etwa 22 Millionen Menschen in Syrien. Mit Beginn des Krieges waren 6,4 Millionen von ihnen gezwungen, das Land zu verlassen. Die Türkei nahm mit 3,1 Millionen Menschen die meisten syrischen Geflüchteten auf. Hunderttausende Syrer reisten über die Türkei in europäische Länder weiter, wobei die meisten von ihnen in Deutschland ankamen. Deutschland ist das europäische Land mit der größten syrischen Gemeinschaft. Seit Beginn der Woche beschäftigen sich sowohl Medien als auch offizielle Stellen intensiv mit den syrischen Geflüchteten. Verschiedene Zahlen kursieren in der Öffentlichkeit. Laut UNHCR-Daten lebten 2024 780.000 syrische Geflüchtete in Deutschland.
Nach Angaben des deutschen Ausländerzentralregisters lebten 2023 insgesamt 973.000 syrische Staatsbürger in Deutschland. Vor dem Krieg lag die Zahl der in Deutschland lebenden Syrer bei lediglich 32.000. Sollte etwa eine Million Syrer Deutschland in kurzer Zeit verlassen, hätte dies, wie in den letzten Tagen diskutiert, gravierende Auswirkungen. Laut der Bundesagentur für Arbeit waren im Mai 2024 etwa 226.600 Syrer in Sektoren wie Bau, Gastronomie, Gesundheit und Altenpflege sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zufolge würde die Rückkehr syrischer Ärzte nach Syrien das deutsche Gesundheitssystem erheblich belasten. Nach Angaben der Bundesärztekammer arbeiteten Ende des letzten Jahres 5.758 syrische Ärzte in Deutschland, von denen etwa 5.000 in Krankenhäusern tätig waren. Damit stellen Syrer die größte Gruppe ausländischer Ärzte in Deutschland dar. Laut dem Bundesgesundheitsministerium fehlen derzeit etwa 200.000 Fachkräfte in Pflege- und Gesundheitsberufen. Bemühungen der Regierung, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, haben bislang nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Laut offiziellen Angaben benötigt Deutschland jährlich 400.000 qualifizierte Arbeitskräfte. Deshalb würde eine Rückkehr aller Syrer den Fachkräftemangel, insbesondere im Gesundheitswesen, erheblich verschärfen.
DIE UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN „NÜTZLICHEN“ UND „NUTZLOSEN“ SYRERN
Daher wird in Zukunft häufiger die Abschiebung von Syrern diskutiert werden, die nicht selbstständig ihren Lebensunterhalt bestreiten können und Sozialleistungen beziehen, die in Straftaten verwickelt werden oder wenig Sprachkenntnisse erwerben. Gleichzeitig werden Pläne entstehen, qualifizierte Syrer, die in einem Beruf tätig sind und Deutsch gelernt haben, im Land zu halten. Innenministerin Nancy Faeser erklärte kürzlich, dass man qualifizierte Syrer behalten wolle.
Es wird immer offenkundiger, dass Deutschland zwischen „nützlichen“ und „weniger nützlichen“ Einwanderern unterscheidet und seine Politik entsprechend ausrichtet. Ein ähnliches Szenario könnte sich im kommenden Jahr für die Ukrainer abzeichnen. Sollte der Krieg enden, könnte die Rückkehr von etwa einer Million Ukrainern, deren Aufenthaltsstatus an den Kriegszustand geknüpft ist, diskutiert werden. Wenn sowohl Syrer als auch Ukrainer zurückkehren, wird in vielen Bereichen ein erheblicher Arbeitskräftemangel entstehen. Dies würde die ohnehin stagnierende deutsche Wirtschaft stärker belasten als erwartet.
Jeder angeblich „unerwünschte“ Geflüchteter entpuppt sich dabei auch als billige Arbeitskraft für das Kapital – eine Realität, die sich immer wieder offenbart.