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Seine, deine, meine Kultur?

Dirimsu Derventli

Sie hören Arabeske, schauen türkische Serien und fiebern aktuell beim Referendum in der Türkei mit. Türkeistämmige Jugendliche, die seit der dritten und zum Teil vierten Generation schon in Deutschland leben und aufwachsen, scheinen mehr mit der Türkei verbunden zu sein, als je zuvor. Dabei ist das Land der Eltern und Großeltern meist nur aus dem Sommerurlaub bekannt. Was verbindet türkeistämmige Jugendliche mit dem Herkunftsland ihrer Vorfahren? Wie entwickelt sich Kulturverständnis und vor allem: Wodurch lässt sich dieses beeinflussen?

Kultur ist ein sehr breit gefächerter Begriff. Um dem Ganzen näher an eine Definition zu bringen, kann man sagen, dass alles was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt Kultur ist. Es ist ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten von Menschen leiten. Jede Kultur, sei es bildende Kunst, Musik oder Moral, ist von einer bestimmten Epoche und seiner ökonomischen sowie gesellschaftlichen Umstände im jeweiligen geographischen Gebiet geprägt. Entsprechend entwickelt sich jede Kultur unterschiedlich schnell. Ein geographisches Teilgebiet kann also eine bestimmte Kultur durch ökonomische Vorteile schneller entwickeln.

Es wurden Arbeiter gerufen…

doch es kamen Menschen an. Die türkeistämmige Community ist in Deutschland europaweit mit ca. drei Millionen Mitgliedern am stärksten vertreten. Diese Zahl beinhaltet sowohl in der Türkei, als auch in Deutschland Geborene; sowohl türkische, als auch deutsche Staatsbürger. Alle dieser drei Millionen haben heute ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Sie arbeiten hier, besuchen die Schule und die Universität und gründen ihre eigene Familie. Ob sie sich eingestehen, dass sich ihr Lebensmittelpunkt hier befindet, ist eine andere Sache.

Als Anfang der 1960er Jahre das Abkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterschrieben wurde und die ersten Gastarbeiter anreisten, war noch nicht klar, welcher Ausmaß diesem Abkommen folgen würde. Die Sehnsucht nach der Heimat war groß, kaum einer sprach Deutsch und die meisten lebten in türkischen Arbeiterghettos. Mit Köln Radyosu gelang ein erster Durchbruch. Köln Radyosu war einer der ersten türkischsprachigen Radiosendungen in der Bundesrepublik, die für die Gastarbeiter ab November 1964 Programm machte. Inhalt waren nicht nur heimische Klänge, sondern auch eine Beratungssendung, die offene Fragen der Arbeiter klären sollte. Das Heimweh wurde etwas besser und die Gastarbeiter blieben. Ihre Familien folgten und Deutschland wurde das neue zu Hause für viele, die hier ihren Familien ein besseres Leben ermöglichen wollten.

Mit der Zeit stieg der Bedarf der türkeistämmigen Gastarbeiter an authentischen türkischen Lebensmitteln und Essen. Ganz nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht“ eröffneten somit die ersten Imbisse und später auch renommierte Restaurants und Lokale. Auch das Medienprogramm wurde revolutioniert. Statt Beratungssendungen stieg der Bedarf an Unterhaltung. Per Satellit kann man jeden türkischen Fernsehsender empfangen und es laufen mittlerweile türkische Filme in deutschen Kinos. Mitten in diesem kulturellen Wahnsinn wachsen heute Jugendliche auf, die meinen, die Türkei aus dem Sommerurlaub und der ihnen hier skizzierten Vorlage, zu kennen. Und ihre Sehnsucht, nach einem Land, das sie eigentlich gar nicht kennen, wird immer größer.

Der Fremde im eigenen Land

Der Soziologe Alfred Schütz (1899-1959) beschreibt dieses gesellschaftliche Phänomen am Versuch „der Fremde“. Menschen, die bereits in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, haben Probleme in neuen Gesellschaften Fuß zu fassen. Schütz sagt, die von ihnen von Kindheit auf gelernten „Rezepte“, also Handlungsstrategien, sind nicht mehr in der neuen Gesellschaft anwendbar. Obwohl viele Teil des neuen Kreises sein möchten, schaffen sie nicht ihre Handlungsstrategien anzupassen und verfallen in eine Krise und werden nach Schütz zum „Phantom“, indem die Person weder einen Platz in der einen Gesellschaft, noch in der anderen finden.

Überträgt man diesen Versuch auf die Situation der türkeistämmigen Jugendlichen, lassen sich klare Parallelen aufweisen. Die Jugendlichen haben es allerdings, anders als in Schütz’ Modell, von Anfang an mit zwei Gesellschaften zu tun. In der einen (deutschen) Gesellschaft fühlen sie sich fremd und haben das Gefühl von den anderen Mitgliedern nicht akzeptiert zu werden. In der anderen (türkeistämmigen) Gesellschaft erleben sie ebenfalls Frust, da sie etwa mit der Sprache nicht zurecht kommen oder nach anderen Werten leben. Das gleiche erleben natürlich nicht nur türkeistämmige Jugendliche, sondern alle, deren Vorfahren aus einem anderen Land emigriert sind.

Schütz spricht aber nicht nur von erfolglosen Integrationsversuchen, im Gegenteil. Klappt erst einmal die „Übersetzung der Rezepte“, so kann ein Individuum problemlos in einer neuen Gruppe aufgenommen werden. In der Realität sieht das Ganze etwas anders aus. Die Bundesrepublik Deutschland hat erst nach der Jahrtausendwende den Titel als Einwanderungsland offiziell akzeptiert. Lange, nachdem die größte Zuwanderung bereits zurücklag.

2014 wurde bekannt, dass Ausbildungsbewerbende mit einem ausländisch klingenden Namen nicht eingestellt werden, wenn es einen Bewerbenden mit deutschem Namen gibt. Und auch an den Hochschulen ist Diskriminierung Gang und Gebe. Während deutsche Staatsbürger bei der Zulassung an die Hochschule bevorzugt behandelt werden, stehen nach den zweitrangigen EU-Staatsbürgern an dritter Stelle sogenannte „Drittstaatler“, also auch die türkischen Staatsangehörigen. Zwei vielsagende Beispiele, die zeigen: Diskriminierung und Rassismus taucht in jedem Lebensbereich auf.

Nicht zuletzt Thilo Sarazzins Bestseller „Deutschland schafft sich ab!“, in dem er die Intelligenz von Migranten anzweifelt, zeigte den Jugendlichen, dass sie hier nicht willkommen sind. Hinzu kommen rechte Parolen aus der Mitte der Gesellschaft, die das Zugehörigkeitsgefühl der Jugendlichen ordentlich ins Schwanken bringt. Rassistische Terrorgruppen wie der NSU, aber auch immer wieder Zuspruch gewinnende rechtspopulistische Parteien, wie die AfD, schüren nicht nur Vorurteile zwischen die Menschen, sondern fördern Aggression und Frustration. Das alles ist Nährboden für eine erfolgreiche Diskriminierung und eine daraus resultierende Abschottung. Und wer profitiert genau von diesen, teilweise orientierungslosen, Jugendlichen? Genau, die AKP und andere türkische Nationalisten.

Zwischen Currywurst und Dönerbox

Unabhängig von den Wahlbesuchen und Werbeveranstaltungen, die die AKP veranstalten will, kamen schon häufig türkische Diplomaten und Politiker nach Deutschland, um dem hiesigen Volk eine wichtige Nachricht zu übermitteln. Sie sollen sich um keinen Preis assimilieren, ansonsten droht ein Kulturverlust, ja noch besser: Die türkische Kultur droht auszusterben! Mit diesen Worten beauftragen sie die Jugendlichen höchstpersönlich, „ihre Kultur“ vor dem Aussterben zu bewahren. Um die jungen und begeisterten Kulturbewahrer kümmert sich tatsächlich endlich jemand. Es ist jemand da, der den Jugendlichen zuhört, der meint sie zu verstehen. Sie inszenieren sich als die Anwälte, jener, die zur benachteiligten Minderheit gehören. Und prompt werden Grundkomponenten der Identität dieser Jugendlichen stark geprägter Nationalstolz und auch die Hingabe zum Glauben.

Und es kommt noch besser: Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, insbesondere Comedians, romantisieren den Zustand der Ungehörigkeit. Mit zwei Kulturen aufwachsen, oder viel mehr, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen, scheint auf einmal ein Privileg geworden zu sein. Es ist wieder angesagt, das Herkunftsland der Großeltern überzeugend zu vermitteln. Plötzlich meinen die Jugendlichen Folklore lernen zu müssen, statt HipHop. Sie lernen Baglama (anatolisches Saiteninstrument) statt Klavier zu spielen oder hören lieber Ahmet Kayas schmachtende Lieder, über ein Land, dass sie nur aus dem Urlaub kennen. Leider hinterfragt keiner, warum nur die Kultur aus dem Land der Großeltern erfüllend sein soll, obwohl genau dieser Ansatz das wesentliche Problem ist. Und so irren romantisierte Phantome von einer Tanzprobe, zur nächsten Shishabar und zur nächsten türkischen Filmvorstellung.

Es ist ja nicht verwerflich sein Lieblingsinstrument spielen zu wollen, weil gerade das so gut klingt, oder eine Tanzart zu erlernen, weil man zu der passenden Musik nicht stillsitzen kann. Ja, jeder soll auch die schmachtende Musik hören dürfen, die er will. Solange aber der Zugang zu den anderen Kulturen den Jugendlichen verwehrt bleibt, solange muss man sich vor Augen führen, dass diese Entscheidung in erster Linie keine subjektive Entscheidung ist, sondern ein gesellschaftlich vorgegebenes Verhaltensmuster.

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