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„Sie greifen aber immer nur die Sprache an, nie die Verhältnisse“

Aylin Yalcinkaya – Cigdem Kardelen

Susann Witt-Stahl ist seit 2014 Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur „Melodie & Rhythmus“. Ein Magazin welches eine lange Geschichte hat und schon 1957 das Licht der Welt erblickte und auf dem Boden der DDR – Deutschen Demokratischen Republik – versucht hat, das Verhältnis zwischen Sozialismus, Kommunismus und populärer Kultur zu beleuchten. Wir hatten die Möglichkeit, mit Frau Witt-Stahl über Kultur, Gegenkultur und „Kulturindustrie“ zu reden.

Was ist mit Gegenkultur gemeint?

Wir gehen davon aus, dass es historische Wahrheiten gibt, dass der Mensch Subjekt seines Lebens sein soll, dass er sich das Selbst durch Arbeit erschafft, dafür aber auch freie Arbeit braucht, um als handelndes Subjekt in die Geschichte eintreten zu können. Deswegen haben wir natürlich auch klare Vorstellungen davon, wie die Kultur dieses Menschen auszusehen hat. Und wenn man jetzt sagen würde, es ist dann Gegenkultur, wenn sie gegen irgendetwas ist, wie zum Beispiel gegen Geflüchtete oder gegen Schwule, dann ist es noch lange keine Gegenkultur. Wenn man so einen Begriff von Kultur hat, dann kann Kultur natürlich auch außerordentlich reaktionär bis faschistisch sein. Uns geht es darum, ein klares Verständnis von Gegenkultur stark zu machen. Dieses Verständnis heißt, dass wir gegen die herrschenden Unrechtsverhältnisse angehen, die geprägt sind von dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und dass wir gegen Verhältnisse angehen, die den Menschen zu unmündigen Objekten erzieht. Das heißt, wir sind systemkritisch und eine fundamentale Opposition zur kapitalistischen Gesellschaft. Jede fundamentale Opposition hat, wie jede gesellschaftliche Kraft, natürlich ihre eigene Kultur und das soll Gegenkultur sein.

Wie viel „Gegenkultur“ gibt es denn?

Im Moment muss ich leider konstatieren, dass Gegenkultur weltweit schlecht gestellt ist. Das hat nichts damit zu tun, dass Menschen keine großartigen kulturellen Leistungen erbracht hätten oder erbringen könnten. Wir haben in der Arbeiterkultur in den 20er Jahren gesehen, was die Arbeiterklasse hervorbringen kann. Aber sie war damals viel stärker und schlagkräftiger aufgestellt. Sie hatte eine eigene Partei, die Millionen von Menschen davon überzeugen konnte, soziale Kämpfe zu führen. Wir wissen, dass das heute ganz anders ist. Der Kapitalismus ist im Moment der strahlende welthistorische Sieger und führt sich entsprechend auf. Wenn es stimmt, dass alle Bewegungen ihre Kultur hervorbringen, dann ist es natürlich auch so, dass auch schwache Bewegungen eine schwache Kultur haben. Ein anderes Problem ist, dass der Kapitalismus nun mal viele raffinierte Wirkmechanismen aus seiner inneren Strukturlogik herausgebracht hat, wie die Kulturindustrie, die eben auch die Menschen davon abhält, für ihre eigenen Bedürfnisse zu kämpfen, sondern sie werden mit Starkult und Konsumgütern zugeschmissen. Sie werden mit Vorbildern konfrontiert, die mit ihrer Lebenswirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben. Sie werden in die Selbstentfremdung und Verdinglichung getrieben und momentan gibt es keine Konzepte dagegen. Im Moment ist da eine ziemliche Wüste weltweit, aber es ist natürlich so, dass erst mal eine Tradition von Gegenkultur lebt. Es gilt jetzt an diese Kultur anzuknüpfen und sich auch selber wieder zu vergewissern, dass es geht. Ein großes Problem der herrschenden Kultur ist, dass sie uns den Eindruck vermittelt, wir können nichts gegen das bestehende machen. Es sei unser Schicksal, dass wir in so einer ausweglosen Situation sind. Die Kultur, die wir schaffen, eine linke fortschrittliche Kultur, macht den Menschen Mut, lässt sie wieder ihre eigene Stärke spüren und merken, dass die Fesseln, die uns umgeben, von uns gesprengt werden müssen. Es wird von außen und von oben niemand kommen. Wenn die Leute sich dieser Kraft wieder bewusst werden, dann werden sie auch wieder eine neue Gegenkultur entfalten können. Und das ist sozusagen ein enger Wirkzusammenhang zwischen Politik, Kultur und unserer Alltagsrealität. Wenn wir glauben, Politik, Kunst und Kultur seien getrennt, dann gehen wir bürgerlichen Ideologien nach. Die bürgerliche Ideologie will uns nämlich einbläuen „Kultur ist nur zur Unterhaltung da.“ Nein, wir müssen begreifen, dass Kultur nicht nur zur Entspannung und Belustigung und zum Konsum da ist, sondern um uns selber zu spüren und um unsere eigene Kraft wieder entfalten zu können und auch den Mut und die Hoffnung nicht zu verlieren.

Nehmen wir Rap als Beispiel: Es gibt politischen und populären Rap, unter anderem sehr sexistisch. Was hältst du davon?

Ich denke es wäre ein fataler Fehler, den Rapkonsumenten zu verteufeln und zu dämonisieren. Ich würde das für das völlig falsche Signal halten. Wie in jeder populären Kultur, die starken kulturindustriellen Einflüssen unterliegt, ist eben der Widerspruch da. Auf der einen Seite ist Rap die Stimme der Unterdrückten gewesen und so entstanden.

Er war also schon immer originärer Ausdruck von der Lebenswirklichkeit, von Menschen, die deklassiert sind, die ausgegrenzt sind, die vielleicht unter schrecklichsten Bedingungen im Überlebenskampf waren. Dieser Rap hat dadurch auch einen sehr fortschrittlichen Ansatz. Der Rap hat sich aber natürlich, da er aus der Gosse kommt, auch der Sprache der Gosse bedient. Er hat die Sprache der Menschen, die sich unter rohen Verhältnissen auch roh ausdrücken, übernommen. Insofern ist diese Sprache auch dialektisch zu sehen. Auf der einen Seite ist sie ein authentischer Ausdruck von Lebenswirklichkeit. Wir können das nicht mit hübscher Sprache bunt anmalen und verdecken, ansonsten machen wir die Lüge der Kulturindustrie mit. Es ist wichtig, dass diese Gosse auch hör- und sichtbar wird. Auf der anderen Seite sind natürlich reaktionäre Elemente da drinnen, weil sie diskriminierend ist, weil sie eben auch die Rohheit und die Gemeinheit, zu der Menschen in Not erzogen und genötigt werden, ausdrückt. Es geht also nicht darum, das Elend und das Unrecht irgendwie zu glorifizieren und zu romantisieren. Der Sexismus oder die Homophobie sind eine widerliche Fratze, die man nicht bunt anmalen kann. Aber wir müssen eben die Widersprüche erkennen und nicht den Fehler machen, diese zu zudecken und damit auch letztendlich die Lösung der sozialen Frage, nach der diese Rapkultur auch schreit, zu vertagen. Kritiker greifen immer nur die Sprache an, nie die Verhältnisse. Und wir müssen die Verhältnisse angreifen, die so eine Sprache und solche Zustände hervorbringen. Die Sexualität, die in diesem Rap aufscheint, ist oft schockierend. Wenn wir diesen verdinglichten Umgang nicht thematisieren, dann heißt es, dass wir eine unglaubliche brutale Umgangsform, den der Kapitalismus gerne hat, reproduzieren. Wenn wir so eine Sprache irgendwo dulden und überhaupt nicht kritisieren und auch nicht untereinander darüber bewusst machen, was das heißt, dann ist es so, dass wir uns eigentlich selber nochmal erniedrigen. Diese Sprache zeigt, dass uns unsere eigene Sexualität nichts wert ist, wenn wir sie so dreckig behandeln. Und das ist etwas was man Rap-Fans unbedingt erklären müsste und mit ihnen diskutieren muss.

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