Written by 12:06 HABERLER

Sind wir wirklich alle Webo?

Vedat İlbeyoğlu 

Eine wichtige Persönlichkeit aus Regierungskreisen hatte mal folgendes gesagt: „Wir haben bis dato die Erfolgsgeschichten anderer gelesen, jetzt schreiben wir unsere eigene!“ Damit wollte er auf den neuen „Befreiungskrieg“ hinweisen, den die türkische Regierung aktuell gegen die ganze Welt führe. Der genannte „Befreiungskrieg“ war dabei nichts anderes als der Kampf um die Machterhaltung. Und die erwähnte „eigene Erfolgsgeschichte“ war lediglich der Versuch, sich von den eigenen Unzulänglichkeiten reinzuwaschen und als „auf ganzer Linie erfolgreich“ zu verkaufen. Dies ist der Ausdruck einer Heuchelei, auf die man nicht nur bei Herrschenden trifft. Dort hat sie nur ihren ideologischen, kulturellen und politischen Ursprung. Und wir müssen zugeben, dass in unserem Land die Herrschenden stets diese Begabung hatten, sich von allem „reinzuwaschen“. 

Das wurde zuletzt nach dem unterbrochenen Spiel zwischen Paris Saint Germain und Başakşehir erneut auf Probe gestellt. Die rassistische Beleidigung des Assistenztrainers von Başakşehir, Pierre Webo verursachte im ganzen Land einen heftigen Aufruhr. „Wir alle sind Webo!“, „Wir alle sind Antirassisten!“ hieß es überall unisono. Ein zu begrüßender Aufschrei, der wellenartig alle Gesellschaftskreise erfasste, möchte man meinen. Hätte er nur nicht diesen faden Beigeschmack, dass man damit wieder einmal versuchte, sich reinzuwaschen. Tatsächlich sollte diese Identifizierung mit Webo vor allem auf die eigene, angeblich reine Weste hinweisen. Die Behauptung, der Rassismus habe das eigene Land niemals betreten, sollte den Nachweis für die eigene „porentiefe Reinheit“ erbringen. Kann man sich denn ohne eine Aufarbeitung der Geschichte von seinen „Sünden reinwaschen“? Ist das wirklich ohne eine radikale gesellschaftliche Abrechnung mit der Geschichte möglich?

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Wir erinnern uns daran, wie sich der heutige Staatspräsident vor einigen Jahren für die Verwendung des Wortes „Armenier“ entschuldigte, weil er sich dabei wie ein Kind fühlte, dem ein verbotenes Schimpfwort ausgerutscht ist. Wie glaubwürdig kann ein solcher Mensch sein, wenn er nach den Vorfällen von Paris erklärt, „ohne Wenn und Aber gegen Rassismus und Diskriminierung beim Sport und in anderen Bereichen des Lebens“ zu sein? Kann diese Beteuerung denn etwas anderes bedeuten, als den Versuch des Sich-Reinwaschens?

Lassen wir z.B. mal den ehemaligen Kapitän der türkischen Nationalmannschaft Emre beiseite, der eine Auszeichnung erhalten hatte, obwohl er kurz zuvor von einem Gericht wegen rassistischer Äußerungen verurteilt worden war. Können wir denn wirklich und allen Ernstes mit dem Hinweis „bei uns werden schwarze Spieler nicht derart belästigt“ die Rassismus-Realität in unserem Land bestreiten? 

Der Rassismus wohnt in allen Bereichen des Lebens, der gesellschaftlichen Kultur inne, auch beim Sport… 

In der Türkei gab es stets zahlreiche „Webos“, die Opfer von Rassismus wurden und für die man sich nicht eingesetzt hat.

Können wir denn den Fußballclub und seine Leidensgeschichte einfach vergessen und behaupten, es gebe bei uns keinen Rassismus?

Und was ist mit Cizrespor, jenem kurdischen Fußballclub, der sich mit dem Hinweis auf rassistische Repressionen aus der 3. Liga zurückzog? Sogar der aus dem türkischen Trabzon stammende Trainer Metin Akpunar beklagte damals, wie Fans und die Mannschaft bei jedem Auswärtsspiel verbal attackiert und mit dem Schlachtruf „Unsere Märtyrer sind unsterblich und unser Land kann man nicht spalten!“ empfangen wurden. Der Rassismus im Weltfußball, der schwarze Spieler betreffe, habe in der Türkei eine stärkere und andere Ausprägung. Der Clubpräsident Sezai Ençkü hatte damals erklärt, dass in manchen Stadien Transparente mit Losungen wie „Köter haben hier Zutritt, Kurden nicht!“ angebracht worden seien. Wer diese Erfahrungen einfach ausblendet, ist nicht glaubwürdig, wenn er skandiert: „Wir sind alle Webo!“

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In unseren Stadien wurden auch Transparente gehisst, auf denen es hieß „Gratulation zum 100-jährigen Jubiläum der Säuberung von Armeniern!“ Können wir uns hinter dem Unrecht an Webo verstecken, um diese Tatsachen zu leugnen? Können wir diese Taten jedes Mal wirklich als Werk von einer handvoll Verwirrter abtun und zur Tagesordnung übergehen? Nein, wir wissen, dass man diese rassistischen Taten als „Kriminalfälle von Einzeltätern“ darstellt, um die historische und gesellschaftliche Grundlage des Rassismus zu beschützen. Die rassistischen Täter setzen lediglich eine geplante Politik um. Und diese Politik mit ihrem Gründungsmythos war es, die den Rassismus zu einem Element des institutionalisierten Rassismus gemacht hat. Er ist so stark institutionalisiert, dass man sich mit den Protesten gegen den Rassismus gegen Webo oder gegen die Ermordung von George Floyd durch Polizisten in den USA nicht reinwaschen kann.

Wer Opfer eines Überfalls wurde, nur weil er Kurdisch sprach, kennt die Bedingungen in unserem Land ganz gut. Noch im vergangenen September wurden kurdische Saisonarbeiter in der nordwesttürkischen Stadt Sakarya von ihren Arbeitgebern und Bauern zusammengeschlagen und mussten zurückkehren. Was ihnen widerfahren ist, war der reine Rassismus, der sich von der Gründungsphilosophie dieses Landes nährt. 

Die Geschichte der Republik ist zugleich die Geschichte des Aufbaus einer gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Stimmung, die alle anderen Zugehörigkeiten als die türkisch-islamische kriminalisiert hat. Der rhetorische Hinweis darauf, das System beruhe auf der „1000 Jahre währenden Brüderlichkeit“, ist nichts anderes als leere Phrase. Er soll lediglich die Ungleichheit von nationalen und Glaubenszugehörigkeiten in diesem System verdecken. 

Und beim Rassismus geht es eigentlich nicht darum, an eine Bedrohung für die eigene Existenz zu erinnern. Vielmehr erfüllt er den Zweck, andere „Identitäten“ immer wieder daran zu erinnern, welche Grenzen man ihnen gesetzt hat. Um einen führenden Politiker der 1930er Jahre, Mahmut Esat Bozkurt, zu zitieren: „Die Herren dieses Landes sind die Türken. Wer nicht der reinen türkischen Rasse angehört, hat im Vaterland der Türken ein einziges Recht: Diener und Sklaven von Türken zu sein…“

Geht es heute um etwas anderes, wenn man Nicht-Türken ausschließt? 

Während sie unisono „wir sind alle Webo“ riefen, wurde ihnen unermüdlich eingebläut, der Sieg von Aserbaidschan über Armenien habe die Stärke der Türken unter Beweis gestellt. Den Antirassismus-Test hat man also wieder einmal nicht bestanden.

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