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Ein Blick zurück – ein Blick voraus

Alev Bahadır

Am Ende des Jahres 2023 wollen wir einen Blick zurück werfen auf die Geschehnisse, die das Jahr geprägt haben und auch sicherlich in 2024 eine Rolle spielen werden. Was wir in jedem Fall sehen können, ist dass die sozialen und politischen Angriffe auf die werktätige Bevölkerung zugenommen haben und die Lebens- und Arbeitsbedingungen keinesfalls einfacher wurden, vor allem in den Bereichen, wo es keine bis kaum Gegenwehr gab. Was das Jahr 2023 deswegen gezeigt hat? Die Menschen sind bereit, für ihre Rechte und Forderungen zu kämpfen!

Mit Rassismus und Spaltung ins Jahr gestartet und bis zum Schluss durchgezogen

Mit den wachsenden ökonomischen und sozialen Problemen, wie der Inflation und der Abwälzung der Kosten des Ukraine-Kriegs auf die Werktätigen, hat auch das Spaltungsbestreben rechter und konservativer Kräfte zugenommen. Dass die AfD in Umfragewerten auf einen Rekordwert ansteigt, ist unmittelbar mit den steigenden sozialen Problemen verknüpft. Wir kennen es aus der Geschichte: ist die soziale Ungerechtigkeit am stärksten, kanalisieren rechte Kräfte die Ursachen auf Geflüchtete, Migranten, Sozialhilfeempfänger usw. und haben damit oft sogar Erfolg. Aber dieses Gedankengut ist nun sogar so salonfähig, dass sogar die Ampelkoalition, deren Bestandteil die „multikulturalistischen“ Grünen und „kosmopolitischen“ Liberalen sind, auf den Zug aufsteigt und offen rassistische Thesen vertritt. Flankiert wird das von liberalen bis konservativen Medien. Wir sehen: Von der angeblichen „Willkommenskultur“, die einige Jahre geprägt hat, ist nur die Worthülse geblieben.

Die Liste der Ereignisse, bei denen gegen Geflüchtete und Migranten gehetzt wurde, war lang. Die aufgeladene Diskussion nach der Silvesternacht 2022/23 um „Chaoten“ und „gescheiterte Integration“ oder die schlichtweg herbei-phantasierte Äußerung, dass Geflüchtete den „Deutschen“ die Zahnarzttermine wegnehmen würden oder Länder kein Geld für tarifliche Lohnerhöhungen hätten, weil sie Geflüchtete versorgen müssten. Besonders die Union ist darum bemüht, sich wieder nach rechts zu öffnen und unter Friedrich Merz endgültig die „Ära Merkel“ zu beenden. Doch dass es nicht nur die Union ist, sondern auch die Politik der Ampelregierung, haben wir in den letzten Monaten deutlich gesehen. Zum einen hat allen voran die Bundesregierung eine Verschärfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in der EU durchgedrückt. Die Reform verschärft die unmenschlichen Bedingungen, die Menschen an den Grenzen zur Europäischen Union erleben, nur noch mehr. So können diejenigen mit einer „geringen Bleibeperspektive“ ohne echtes Verfahren an der EU-Außengrenze abgewiesen werden. Bis die Entscheidung jedoch gefallen ist, werden die Menschen in Lagern untergebracht, die de facto Gefängnisse sind, damit sie nicht weiterreisen können, bevor sie endgültig zurückgeschickt werden können. Auch die Abschiebung in Drittstaaten soll vereinfacht werden. Für diese Reform klatschen sich die Politiker der Ampel in die Hände. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nennt sie „dringend notwendig und längst überfällig“. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht vom „Schutz der Außengrenzen“. Ganz nach dem Geschmack von Parteikollege und Bundeskanzler Olaf Scholz, der noch vor kurzem im Spiegel sagte, man müsse endlich „im großen Stil abschieben“. Eine Tatsache, die übrigens sowieso längst und täglich passiert. Allein von Januar bis Oktober 2023 wurden 13.512 Menschen abgeschoben, das ist mehr als im gesamten Jahr 2022.

An der GEAS-Reform wird die Politik der Regierung, die stets im Interesse des Kapitals handelt, sehr deutlich: Menschen werden nach dem Kriterium „wirtschaftlich nützlich“ und potentielle „Fachkraft“ aussortiert. Über Monate hinweg wurde der Nährboden für diese Faktenschaffung gelegt. Systematisch wurden Geflüchtete in Zusammenhang mit Kriminalität gesetzt, das Wort „Flucht“ durch „irreguläre Migration“ ersetzt, hört sich schließlich irgendwie kriminell an. Die Stimmung gegen Menschen, allen voran aus muslimischen Ländern, wurde immer weiter angeheizt. Insbesondere nach dem Aufflammen des Nahostkonflikts wurden Muslime quasi vogelfrei, jeder kann über sie sagen, was er oder sie will. Dabei werden die staatstragenden Medien gezielt genutzt. Nicht umsonst veröffentlichte die BILD ein 50-Punkte-Manifest, das an Rassismus und Ressentiments kaum zu übertreffen ist, genau zu dem Zeitpunkt als die gesellschaftliche Stimmung gegen Muslime am schärfsten war und die GEAS-Diskussionen unmittelbar geführt wurden. Es ist eine Politik im Sinne des Kapitals, weil mit dem Zuschieben des Buhmanns auf Geflüchtete, die eigentlichen Ursachen für die Probleme, die neoliberale Politik, die von den Werktätigen kürzt und die Konzerne subventioniert, unter den Teppich gekehrt werden. Gleichzeitig gibt es da, wo es „irreguläre“ Migration gibt, natürlich auch „reguläre“. Denn während die Parteien gegen all jene schießen, die der deutschen Wirtschaft womöglich nicht nutzen, wird der Weg geebnet für „Fachkräfte“, die nach Deutschland geholt werden können, um in den Jobs zu arbeiten, in denen hierzulande niemand mehr arbeiten will, für einen Lohn, den hierzulande niemand mehr akzeptiert. Die Mahnung an die deutsche Arbeiterklasse steht: passt ihr euch nicht an, können wir euch ersetzen. Das und die allzeit anwesende Mahnung der „Standortsicherheit“, die übrigens auch von „links“, wie von Sahra Wagenknecht propagiert wird, sorgen weiter dafür, dass die Spaltung zwischen den Werktätigen nicht ab-, sondern zunimmt.

Dazu trägt aber auch nicht nur das Handeln der deutschen Bundesregierung oder des deutschen Kapitals bei, sondern auch z.B. die Politik der Türkei. Während den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai und Juni haben wir die politische Polarisierung deutlich wieder gesehen. Statt aber darüber zu sprechen, Menschen hier einzubinden und ihnen eine Stimme zu geben, ging es wieder einmal um die scheinheilige Diskussion um „wer in einer Demokratie lebt, aber im Ausland autoritär wählt“. Scheinheilig ist sie deshalb, weil zwar diese Diskussion immer ins Feld geführt wird, aber weder die Zusammenarbeit mit Erdoğan als Konsequenz beendet wird, noch der Einfluss der AKP-Lobbyorganisationen wie DITIB oder UID in irgendeiner Form angegangen werden.

Krieg und Militarismus auf dem Vormarsch

Mit dem Ende von 2023 dauert der Krieg in der Ukraine mittlerweile seit fast 2 Jahren an. Beide Seiten sind es nicht müde, ihre jeweilige Propaganda fortzuführen und international für sich zu werben, statt in Friedensverhandlungen zu gehen. So feierte das kanadische Parlament beim Besuch Selenskyjs einen ukrainischenSS-Mann und Wladimir Putin exportiert so viel Gas, wie noch nie – übrigens auch in die EU. Im Machtkampf der großen imperialistischen Blöcke um USA und China nehmen die Auseinandersetzungen immer größere und zerstörerische Ausmaße an. Während zum Beispiel die israelische Regierung, wichtigster Partner des westlichen Blocks im Nahen Osten und Bollwerk gegen den Iran, nach dem Anschlag der Hamas in Gaza einmarschiert ist und bis zum heutigen Tag ca. 20.000 Palästinenser, viele davon Frauen und Kinder, getötet hat, schaut ein großer Teil der politischen Weltgemeinschaft zu oder gar weg! Andere, wie Deutschland, unterstützen die Politik Netanyahus sogar „uneingeschränkt“ und erklären Israels Sicherheit zur „Staatsräson“. Doch, dass im Gaza momentan eben nicht die Hamas, sondern vor allem Zivilisten getroffen werden, wird nur mit einem vorgetäuschten „Bedauern“ hingenommen.

Die Kriegspolitik mitzutragen scheint zur äußersten Maxime der Bundesregierung geworden zu sein. Nicht nur, dass bisher sämtliche Rüstungsgüter, die zur Verfügung stehen, in die Ukraine geschickt wurden, auch hat sie sich selbst bei der Ausfuhr von Waffen im Vergleich zu 2022 übertroffen. Waffen im Wert von 8,76 Milliarden Euro wurden in den ersten drei Quartalen 2023 bereits exportiert. Gleichzeitig soll auch bei der Bundeswehr aufgerüstet werden. Endlich sollen wir „kriegstüchtig“ werden, daran arbeitet „Verteidigungsminister“ Boris Pistorius (SPD) mit vollem Einsatz.

Wo die Prioritäten der Bundesregierung liegen, hat sie eindeutig bewiesen. Denn nachdem bereits im ursprünglichen Haushaltsplan für 2024 starke Kürzungen im sozialen Bereich vorgesehen waren, während der Rüstungsetat steigen sollte, hat sich das mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur verschärft. Die Union hatte gegen die Umlegung von Mitteln der Coronahilfe in andere Bereiche des Haushalts beim Bundesverfassungsgericht geklagt und Recht bekommen. In den letzten Wochen hat sich die Bundesregierung darüber gestritten, wie die fehlenden 30 Milliarden Euro eingespart werden können, ohne neue Schulden aufzunehmen, denn da stellen sich die Union und Finanzminister Christian Lindner (FDP) quer. Was bleibt sind Steuererleichterungen für Unternehmen, Subventionen ebenfalls für Konzerne, die Senkung der Einkommenssteuer und der Rüstungsetat in gleicher Höhe. Wo gespart wird, ist bei den Armen und Schwachen. So sollen Sanktionen für Bürgergeldempfänger zunehmen, Benzinpreise steigen, bei den Renten gespart werden und vieles mehr. Dass die Rüstung und Konzerne trotzdem im gleichen Maße bleiben, darüber spricht niemand. Dass das Bürgergeld um 61 Euro erhöht werden soll, wird hingegen skandalisiert.

Nicht zuletzt das alles führt dazu, dass die Fassade der Ampelregierung bröckelt. Was sich vor 2 Jahren noch als „Fortschrittskoalition“ verkauft hat, steht heute quasi vor dem Aus. Die Ampel steht aktuell für Krieg, wachsende Armut und Abschottung. Keines der Themen, mit denen man Wahlkämpfe gewinnt.

Das Jahr der Kämpfe

Wir können durchaus sagen, dass sich die Probleme der Arbeiterklasse im Jahr 2023 verschärft haben. Gleichzeitig konnten wir aber auch einen stärkeren Kampfgeist beobachten. 2023 haben viele verschiedene Arbeitskämpfe stattgefunden. Der Öffentliche Dienst, die Beschäftigten der Länder, die Kolleginnen und Kollegen im Handel, bei der Post und im Paketdienst, im Sozial- und Erziehungsdienst, den Krankenhäusern, sozialen Einrichtungen, der Stahlindustrie, die Lokführer, sie alle haben 2023 gekämpft. Wie kaum in einem Jahr zuvor, haben die Kolleginnen und Kollegen eine Ausdauer und Kampfbereitschaft gezeigt, die über die Kämpfe zuvor hinausgeht. Teilweise monatelang haben sie ihre Stimmen erhoben, sind auf den Straßen gewesen und haben für ihre Forderungen gekämpft. Immer wieder standen Urabstimmungen für unbefristete Streiks auf der Tagesordnung. Und auch, wenn die Gewerkschaftsspitzen zwar immer wieder gezeigt haben, dass sie staatstragend und sozialpartnerschaftlich sind, haben die Beschäftigten ein anderes Bild geschaffen. Als Delegierte bei den Gewerkschaftstagen haben sie sich (zumindest in Teilen) gegen Kriegspolitik und Aufrüstung gestellt. Auch wenn der Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie noch groß ist, haben immer wieder kämpferische Gewerkschafter gezeigt, dass sie Kämpfe im Interesse der Arbeiterklasse, für Frieden und gegen Rassismus führen wollen. Wir haben also gesehen, dass die Beschäftigten bereit sind, zu kämpfen und diese Kämpfe aber auch weiterhin innerhalb der Gewerkschaften geführt werden müssen.

Und auch für andere Themen waren dieses Jahr wieder Tausende auf den Straßen. 20.000 Menschen haben sich am 25. November in Berlin unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ versammelt, um gegen die Kriegspolitik und die Rüstungsausgaben der Bundesregierung zu demonstrieren. Zehntausende waren bei den globalen Streiktagen von Fridays for Future auf den Straßen und sagten klar „Nein!“ zur Umweltzerstörung. All diese und weitere Aktionen und Demonstrationen sind den Herrschenden ein Dorn im Auge. Immer wieder wird das Streikrecht in Frage gestellt. Pro-Palästinensische Demonstrationen oder jene, die sich für Meinungsfreiheit stark machten, wurden unter fadenscheinigen Gründen verboten. Dennoch sind immer wieder weltweit tausende Menschen auf den Straßen gewesen.

2023 war ein Jahr der Kriege und Konflikte, ein Jahr des Auftriebs von rechten Kräften, ein Jahr der sozialen Probleme. Aber 2023 war auch ein Jahr der Solidarität. Ein Jahr der sozialen Kämpfe. Ein Jahr des Widerstands. Und was auch 2024 auf uns zukommen mag, eins ist klar: Die Kämpfe für höhere Löhne, Frieden und soziale Gerechtigkeit werden sich verschärfen!

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