Written by 11:57 DEUTSCH, TÜRKEI

Türkei: Die Keule der „Falschinformation“

Das unter Kritikern und Oppositionellen als „Desinformationsgesetz“ benannte Gesetz, das letztes Jahr mit den Stimmen der AKP und MHP verabschiedet wurde, ist insbesondere den Journalisten in der Türkei als Zensurgesetz bekannt, das darauf abzielt, Journalisten, die der Wahrheit nachgehen, zum Schweigen zu bringen. Der damalige Justizminister Bekir Bozdağ und die AKP- und MHP-Abgeordneten, die das Gesetz unterstützten, hatten behauptet, dass dieses Gesetz darauf abziele, spekulative Nachrichten und Fakenews in sozialen Medien zu unterbinden.

Am 1. November wurden jedoch der T24-Autor und Journalist Tolga Şardan und der Chefredakteur von Halktv.com.tr, Dinçer Gökçe, unter dem Vorwurf der „öffentlichen Verbreitung irreführender Informationen“ festgenommen. Dinçer Gökçe wurde unter Bewährung und Aufsicht wieder freigelassen, Tolga Şardan hingegen befindet sich weiterhin in Haft wegen seines Artikels „Was steht in dem ‚Justizbericht‘, den MIT dem Präsidenten vorgelegt hat?“. Ihm wird unterstellt, er würde Unwahrheiten schreiben, Tatsachen verdrehen und öffentlich irreführende Informationen verbreiten. In einer Erklärung des Journalistenverbandes hingegen wird Şardan als ein sehr seriöser und angesehener Journalist bezeichnet, der seit 35 Jahren im Rahmen seiner Tätigkeit über ein breites Netzwerk und Kontakt zu Innen-, Sicherheits- und Justizbürokratie und relevanten Politikern stehe und seine Freilassung wird gefordert.

Unmittelbar nach der Verhaftung von Tolga Şardan leitete die Generalstaatsanwaltschaft Ankara Ermittlungen gegen drei Journalisten ein, die für die oppositionelle Zeitung Birgün arbeiten. Auch lautet hier der Vorwurf: „öffentliche Verbreitung von irreführenden Informationen“. Die Journalisten hatten kritisch über AKP-Abgeordnete und ihre Machenschaften berichtet. Am 28. Dezember 2022 (!) war mit dem Titel „Ehemann der AKP-Abgeordneten macht Milliardenprofit“ von Birgün-Reporter İsmail Arı berichtet worden, wie Fatih Erdoǧan, der Ehemann der AKP-Abgeordneten Asuman Erdoǧan öffentliche Gelder in seine eigene Tasche leitet. Ebenfalls war am 6. Januar 2023 mit dem Titel „Eine Entscheidung, die die Erdoǧans verärgern wird: Eine Bremse für Plünderungen“ von Uğur Şahin ein kritischer Artikel veröffentlicht worden.

Und es geht noch weiter. Am 3. November wurde der Kurzwellen-Autor und Journalist Cengiz Erdinç, der wie Tolga Şardan als Polizei- und Gerichtsreporter bekannt ist, in Balıkesir festgenommen. Und auch er wurde kurz darauf unter Bewährung freigelassen. Er hatte Tolga Şardans Artikel und andere Schriften positiv bewertet und darüber berichtet.

Medien und Journalisten im Griff des Desinformationsgesetzes

Die Ermittlungen gegen sechs Journalisten innerhalb von drei Tagen wegen „öffentlicher Verbreitung irreführender Informationen“ wirft natürlich die Frage auf: Warum wird dieses Gesetz erst jetzt, 13 Monate nach seiner Verabschiedung, angewandt?

Der erste Gedanke, der sich hier aufdrängt, ist der Wunsch der Regierung, Journalisten einzuschüchtern und die Medien und sozialen Medien im Vorfeld der am 31. März 2024 stattfindenden Kommunalwahlen unter Kontrolle zu halten. Das Ein-Mann-Regime Erdoǧans sieht Medien und Journalisten, die kritisch und oppositionell berichten, als Gefahr und versucht, diese mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einzuschüchtern.

Die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara 10 Monate nach Veröffentlichung von zwei Nachrichtenartikeln gegen die Autoren der Birgün Verfahren eingeleitet hat, zeigt, dass man sich entschlossen hat, das „Desinformationsgesetz“ jetzt immer häufiger anzuwenden. Dies zeigt, dass wir in eine Phase eingetreten sind, in der das „Desinformationsgesetz“ offen und entschlossener zusammen mit den Anschuldigungen des „Terrorismus“ und der Unterstützung terroristischer Organisationen gegen die Medien, die sozialen Medien und die Journalisten eingesetzt werden wird. Somit hat das „Terörle Mücadele Yasası“, das Gesetz zur Terrorbekämpfung, nun einen Verbündeten bekommen. Bis zu denen Wahlen werden beide Gesetze Hand in Hand versuchen, jegliche kritische Meinung zu unterdrücken und Medien und Journalisten zu verhaften, zu beschuldigen und mundtot zu machen.

Journalismus ist kein Verbrechen!

Viele Medien- und Journalistenverbände und -Gewerkschaften gaben nach der Verhaftung von Tolga Şardan eine gemeinsame Erklärung ab. „Wir sind Journalisten und wir werden weiterhin schreiben, dass Journalismus kein Verbrechen ist, wir werden trotz Druck und Drohungen weiterhin Korruption anprangern, wir werden trotz allen Drucks der Tyrannei weiterhin Journalismus betreiben, wir werden weiterhin für das Recht der Menschen arbeiten, Nachrichten zu erhalten“, heißt es in der Erklärung. Weiterhin betonten die Journalisten: „Wir sind Journalisten. Journalismus ist kein Verbrechen“.

Achtzehn Menschenrechts- und Journalistenorganisationen, darunter internationale Organisationen, wie das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), die Koalition der Frauen im Journalismus (CFWIJ), die Europäische Journalistenföderation (EJF), Freedom House und das Internationale Presseinstitut (IPI), veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung zur Verhaftung von Tolga Şardan: „Wir fordern die Behörden auf, Tolga Şardan sofort freizulassen. Am 2. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalisten, fordern wir die Türkei auf, diejenigen, die die Pressefreiheit verletzen, zur Rechenschaft zu ziehen, anstatt Journalisten zu bestrafen.“

Das Problem ist nicht nur das Problem der Journalisten, sondern der ganzen Nation!

Natürlich haben auch verschiedene politische Kreise in der Türkei Erklärungen abgegeben, in denen sie die Zensur der Medien und der sozialen Medien durch die Regierung sowie die Einschüchterung von Journalisten verurteilen!

Andererseits läuft gerade auf Antrag der Oppositionspartei CHP vor dem Verfassungsgericht ein Verfahren zur Aufhebung und Aussetzung der Vollstreckung des Artikels 217/A, in dem es um die „Gefängnisstrafe für das Verbrechen der öffentlichen Verbreitung irreführender Informationen“ geht. Wir werden in einigen Tagen sehen, wie das Verfassungsgericht entscheiden wird.

Das Problem ist jedoch nicht nur das Problem der Journalisten. Die Regierung verstößt gegen die Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information. Aus diesem Grund betrifft es unmittelbar alle Teile der Medien, die für die Veröffentlichung der Wahrheit eintreten, sowie verschiedene Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen.

Daher ist die Frage der Medienfreiheit ein Thema, das als wichtiges Anliegen der demokratischen Kräfte in den Vordergrund gerückt werden muss. Denn dieser Kampf steht an vorderster Front im Kampf gegen das Ein-Mann-Regime und heute hat dieser Kampf an Bedeutung gewonnen und wird es in Zukunft noch mehr.

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