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Meinungsfreiheit und Staatsräson

Yekta Doǧan

Seit nun über einem Monat bombardiert die israelische Armee fast pausenlos den Gaza-Streifen als Vergeltung für den brutalen Angriff der Hamas auf Israel. Israel hat eine Blockade verhängt, die die palästinensische Zivilbevölkerung inzwischen seit Wochen von Wasser, Medikamenten, Strom und Treibstoff abschneidet. In den letzten 4 Wochen sind über 10.000 Zivilisten, darunter über 4.000 Kinder, durch die israelische Armee getötet worden, wobei die Zahl der Opfer mit jedem Tag stetig ansteigt. Währenddessen starten die Bundesregierung und die deutschen Leitmedien (Springer, Bertelsmann und Öffentlich-Rechtliche) eine lange nicht dagewesene Repressionskampagne: Versammlungsverbote, einseitig pro-israelische Berichterstattung, Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. Alles, was der deutschen Staatsräson „die bedingungslose Solidarität mit Israel“ widerspricht, wird mit allen möglichen Mitteln bekämpft. Jegliche Kritik an Israel wird mit Antisemitismusvorwürfen im Keim erstickt und die israelische Militärübermacht wird damit gerechtfertigt, die Hamas habe am 7. Oktober angefangen.

Die nicht-so-freie-Presse

Für die deutschen Medien ist es unvorstellbar, über den pausenlosen Abwurf von Bomben auf Zivilisten ähnlich „fassungslos“ und „entsetzt“ zu berichten, wie über den Angriff der Hamas. Ähnliche Doppelmoral wird auch beim Ukraine-Krieg angewandt. Rechtfertigt der grausame Überfall der Hamas die Ermordung und Vertreibung von tausenden Zivilisten? Man könnte die Blockade von Gaza als „Kriegsverbrechen“ charakterisieren, genau wie man es im Falle der russischen Angriffe auf ukrainische Infrastruktur getan hat. Hier in Deutschland gelten die Taten der israelischen Regierung aber als „legitime Selbstverteidigung“, was in anderen Ländern, je nachdem ob Verbündete oder Feind, anders ausgelegt wird. Macht Russland so etwas, ist das ein Verbrechen, wenn der NATO-Partner Türkei Syrien oder den Irak bombardiert, wird demonstrativ weggeguckt und im Falle Israels geht der Bundespräsident Steinmeier sogar so weit, den Schutz Israels nicht nur als deutsche Staatsaufgabe, sondern auch als eine „Bürgerpflicht“ zu bezeichnen.

Passend dazu ist der interne Schriftverkehr der Tagesschau-Redaktion, welcher kritischen Medien zugespielt wurde. In diesem gibt es Anweisungen, welche Begriffe benutzt werden sollen und welche nicht. Vor allem alles, was den Angriff der Hamas in einen Kontext setzen könnte, und den Eindruck erwecken könnte, dass der Konflikt noch viel weiter zurück geht als der 7. Oktober, soll vermieden werden. In einem Auszug heißt es: „Bitte die >Gewaltspirale< vermeiden. Die Floskel sagt wenig aus und geht in der Regel an den Realitäten vorbei. Im aktuellen Fall hat die Hamas Israel überraschend angegriffen.“ Man will also den Gedanken, dass es eine Vorgeschichte zum Angriff geben könnte, aus dem Weg räumen. So eine Betrachtungsweise könnte die „bedingungslose Solidarität“ mit der israelischen Regierung gefährden und eine Rechtfertigung tausender ziviler Opfer unglaubwürdig machen. Dasselbe Vorgehen, das die deutschen Leitmedien und die Bundesregierung bei sog. „autoritären Staaten“ und ihrem Staatsfernsehen als „undemokratisch“ kritisieren, legen sie hier selbst zu Tage.

Andersdenkende unter Generalverdacht

Beim Thema Versammlungsfreiheit sieht es nicht anders aus. Überall in Deutschland werden seit einem Monat systematisch Demonstrationen und Versammlungen, die Solidarität mit den Palästinensern bekunden wollen, verboten, kriminalisiert und von den oben erwähnten Leitmedien als „Hamas-Demonstrationen“ denunziert. Zwar finden vereinzelt Demonstrationen mit sehr hoher Beteiligung statt, wie zum Beispiel die Demonstration mit mehr als Zehntausend Teilnehmern in Berlin, jedoch sind diese nur Einzelfälle und dem großen Druck geschuldet, der von Teilen der Bevölkerung ausgeht. In Hamburg herrscht ein generelles Demonstrationsverbot in Form einer Allgemeinverfügung. Sowohl die Allgemeinverfügung als auch die einzeln ausgesprochenen Demonstrationsverbote sind an Rassismus, Sexismus und antidemokratischen Begründungen nicht zu übertreffen. Weiblichen Versammlungsanmelderinnen wird ein Verbot unter anderem damit begründet, dass sie als Frauen, die emotional aufgewühlten jungen muslimischen Männer nicht kontrollieren und somit die staatlichen Auflagen nicht gewährleisten könnten. In der Allgemeinverfügung wird davon ausgegangen, dass bei einer Pro-Palästina-Demonstration die Wahrscheinlichkeit von antisemitischen Parolen sehr hoch sei. Damit werden sowohl alle, die sich mit den Palästinensern solidarisieren bzw. Kritik an Israel üben, als auch muslimische Menschen unter Generalverdacht gestellt, antisemitisch zu sein. Folgender Auszug aus der Allgemeinverfügung bestätigt diesen Generalverdacht: „Abseits einer möglichen bevorstehenden Bodenoffensive Israels sind auch Angriffe auf zivile Ziele in Gaza, die entsprechend medialisiert werden, bereits geeignet, die muslimische Bevölkerung – auch in Hamburg – weiter zu emotionalisieren. Damit einhergehend steigt auch das Risiko der Durchführung von Aktionen pro-palästinensisch ausgerichteter Personen, wie spontane Versammlungen aber auch die Begehung von Straftaten z. N. israelischer / jüdischer Einrichtungen und Interessen.“ Der Slogan „from the river to the see – palestine will be free“ wird möglicherweise bald strafrechtlich verfolgt, weil er angeblich darauf abziele, den Staat Israel zu vernichten. Eine andere Interpretation des Satzes, nämlich das Muslime und Juden in Freiheit und ohne Unterdrückung gemeinsam „Vom Fluss (Jordan) bis zum Mittelmeer“ leben könnten, wird gänzlich ausgeschlossen. Das Signal: man ist entweder für Israel oder für die Auslöschung Israels, eine andere Meinung kann man gar nicht haben.

Ein Angriff auf unsere Rechte

Schnell zeigt sich, dass sich der Krieg im Nahen Osten und die Stimmungsmache sehr gut für einen Angriff auf die Rechte der Bevölkerung eignet – und dafür wird er auch genutzt.

Bundeskanzler Scholz spricht unmittelbar nach dem Hamas-Angriff davon, dass Deutschland im großen Stil abschieben müsse. FDP-Politikerin Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin, jetzt Antisemitismusbeauftragte in NRW, zieht in Erwägung, die Staatsangehörigkeit von Versammlungsanmeldern zu überprüfen und Menschen ohne deutschen Pass eine Anmeldung zu verbieten. Es sei eine Möglichkeit „mal im Vorhinein ein Verbot auszusprechen, was insgesamt bei Versammlungen bei unserem Versammlungsrecht sonst schwierig ist“. Ein klarer Verstoß gegen die Landesverfassungen, das Bundesversammlungsgesetz und die europäische Menschenrechtskonvention. Die CDU will Gesetze verschärfen, Geflüchtete einfacher abschieben und doppelten Staatsbürgern sogar den Pass entziehen, wenn sie sich vermeintlich antisemitisch äußern. „Antisemitisch“ kann demnach auch eine bloße Kritik am israelischen Krieg aber auch ein harmloser Slogan sein, den man, wenn man will, antisemitisch interpretieren kann. Mit einem Aiwanger, der noch vor kurzem wegen eines antisemitischen Flugblattes aus seiner Jugend auffiel und von dem ehemaligen Mitschüler berichten, dass er früher Hitlergrüße und Judenwitze unter anderem beim Besuch des Konzentrationslagers Dachau gemacht haben soll, will die Union allerdings weiter koalieren. Antisemitismus ist eben nur Antisemitismus, wenn er „importiert“ ist.

Bei näherer Betrachtung wird klar, dass es der Bundesregierung und den Leitmedien nicht wirklich um Antisemitismus geht, sondern um die Spaltung der Bevölkerung, um die Legitimation ihrer Kriegs- und Rüstungspolitik und um den Angriff auf unsere Rechte. Denn Realpolitisch sind in Deutschland seit dem Beginn des Angriffs auf Gaza drei wichtige Sachen passiert.

Erstens: Die Hetze gegen Muslime und der Wunsch nach effektiveren Abschiebungen/Ausbürgerungen hat massiv zugenommen.

Zweitens: Die Rüstungsexporte nach Israel stiegen von 32 Mil. Euro (Vorjahr) auf 303 Millionen Euro. Der Großteil dessen wurde seit Kriegsbeginn bewilligt.

Drittens: Der Angriff auf demokratische Prinzipien wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Beschränkung der Presse- und Informationsfreiheit durch Zensur.

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