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Über die Debatte „Reform oder Erneuerung des Islam“

İhsan ÇARALAN

Der Stein des Anstoßes war eine Rede von Nurettin Yildiz, der bei der offiziellen Frauentagsfeier im Präsidentenpalast verkündet hatte: „Ich spreche im Namen Allahs und des Islam. Sie haben befohlen, dass Frauen mit Prügel gezüchtigt werden dürfen.“ Diese Rede hatte zu einer öffentlichen Bestürzung geführt, weshalb sich Präsident Erdoğan zu einer Erklärung gezwungen sah: „Den Islam kann man heute nicht mit 15 Jahrhunderte alten Geboten praktizieren. Man muss die Regeln aktualisieren.“ Er hatte fest damit gerechnet, dass diese Erklärung zu einer Welle von Entrüstung insbesondere aus den Reihen der Theologen führen würde. Um Kritik von sich abzuwenden, forderte er die Religionsbehörde und die Staatsanwaltschaft auf, Stellung gegen die Rede von Yildiz zu beziehen.

Die Antwort Erdoğans wurde von vielen als Aufforderung zu „Reformen im Islam“ aufgefasst. Solche Erwartungen stoppte der Präsident unumgänglich. Er twitterte sinngemäß: „Interpretationen und Rechtsprechung können sich im Laufe der Zeit ändern und brauchen auch eine Überarbeitung; nicht aber der Koran und die Sunna!“ Die letzteren seien unveränderlich.

Eine erste Reaktion erntete Erdoğan bei der Generalstaatsanwaltschaft Ankara. Diese informierte die Öffentlichkeit über die Einleitung von Ermittlungen gegen Nurettin Yildiz. Frühere Erklärungen von Yildiz und anderen „Islam-Gelehrten“ waren bisher als „freie Meinungsäußerung“, „Pressefreiheit“ etc. eingestuft und nicht geahndet worden. Erst durch die Aufforderung Erdoğans entdeckten die Staatsanwälte einen Ermittlungsbedarf. Dieses Beispiel führte erneut vor Augen, wie es um die „Unabhängigkeit der türkischen Justiz“ bestellt ist.

Die von Erdoğan vorausgesagte Kritik aus den Reihen von „Islam-Gelehrten“ trat auch umgehend ein. Prof. Dr. Ahmet Akgündüz, Rektor der Islamischen Universität zu Rotterdam, den Erdogan drei Tage zuvor in seinem Palast empfangen hatte, widersprach dessen Aufforderung nach „Aktualisierung des Islam“. Er forderte auf Twitter den Staatspräsidenten auf, nicht anmaßend zu sein und nicht zu vergessen, dass er kein Islam-Gelehrter ist. „Erklärungen zu Themen, die nicht zu Ihren Fachgebieten gehören, könnten Sie in eine Katastrophe treiben…“ In seinem Tweet nahm er auch ausdrücklich seinen Kollegen Yildiz gegen die Kritik aus dem Präsidentenpalast in Schutz.

Auch die Oberste Religionsbehörde Diyanet hatte Erdoğan namentlich angesprochen und aufgefordert, aktiv zu werden. So schnell wie die Staatsanwaltschaft konnte die Diyanet-Führung nicht reagieren. Sie verwies jedoch auf die Beschlüsse, die zeigten, dass die Aktualisierung stets vorgenommen werde.

Nach Ansicht des Diyanet-Präsidenten darf es keine „Reform des Islam“ geben. Unter den von ihm angekündigten Schritten ist jedoch nichts vorgesehen, was dem Wunsch von Erdoğan entspricht. Er möchte die Diyanet dafür einsetzen, um den Einfluss von Theologen wie Yildiz zurückzudrängen und sich selbst als obersten Religionsgelehrten zu installieren. Auf den ersten Blick scheint jedoch Diyanet hierbei nicht mitmachen zu wollen. Anscheinend möchte sie sich aus den Debatten heraushalten. Denn der Einfluss von verschiedenen Sekten und deren Führern in den Reihen von Diyanet ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Vor diesem Hintergrund scheut die Diyanet-Führung eine Konfrontation mit den „Islam-Gelehrten“.

Die von Erdoğan angestoßene Debatte über die „Reformierung oder Aktualisierung des Islam“ birgt das Potenzial, die Gesellschaft entlang neuer Unterschiede zu spalten. Jedenfalls öffnete er die Büchse der Pandora. Die Debatte wird nicht nur neue gesellschaftliche Verwerfungen hervorrufen, sondern in den nächsten Wochen höchstwahrscheinlich auch die politische Agenda des Landes bestimmen. Wir werden sehen, wie die neue Agenda dann in erster Linie Provokationen zugunsten der derzeitigen Mächtigen gestalten wird.

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