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„Viel weniger Geld für die gleiche Arbeit“

Sidar Carman

Das Rattenrennen um immer niedrigere Löhne im Einzelhandel ist in vollem Gange. Der Einzelhandel ist eine der Branchen, in der ein unerbittlicher Verdrängungswettbewerb herrscht. Nur noch 30 Prozent sind in der Tarifbindung. Dazu zählt auch real,-. Im Juni 2018 hatte das Warenhaus der METRO AG die Tarifpartnerschaft mit ver.di aufgekündigt und zahlt bei neuen Arbeitsverträgen nach einem neuen Tarif, dem mit der christlichen Gewerkschaft DHV verhandelten Tarif. Für dieselbe Arbeit erhalten Neu-Eingestellte rund 23 Prozent weniger Lohn und Gehalt. Über 5.000 Beschäftigte sollen inzwischen zu diesen Dumping-Konditionen eingestellt worden sein. Doch auch bei Vertragsänderungen von Alt-Beschäftigten droht der Sturz in das ausbeuterische Tarifwerk der Gewerkschaft DHV. Gegen diese Politik der Lohnkürzung regt sich Widerstand. In den letzten Monaten fanden Streiks statt, weitere werden in den nächsten Wochen und Monaten folgen.

Von Hacibektas nach Sindelfingen

Aynur (* Name geändert) ist eine von vielen Widerständlerinnen bei real,-. Die 39-jährige Kassiererin im größten real,- Markt im Raum Stuttgart ist Mutter von zwei Kindern. Sie ist in Bayern geboren, als Tochter einer türkischen Arbeiterfamilie. Ihr Vater kam in den 60´er Jahren aus Hacibektas/Nevsehir nach Deutschland. Er arbeitete bis zur Rente beim Staplerhersteller Linde. Ihre Mutter zog nach der Heirat nach Deutschland nach und arbeitete in einer Textilfabrik. Nach der Geburt ihrer Kinder musste sie jedoch die Arbeit aufgeben und lebt seither als Hausfrau. Aynur lacht, als sie erzählt, dass auch sie vor Jahren von Bayern nach Sindelfingen „migriert“ ist, der Liebe wegen. Ihr Ehemann ist Arbeiter beim Daimlerwerk Sindelfingen. „Er ist IG Metaller – klar!“ fügt sie noch hinzu.

„Arbeiter*innen“ – davon spricht Aynur sehr oft. Ein anderes Wort gibt es für sie nicht, wenn sie versucht zu beschreiben, wer sie ist, wie sie auf ihre Kollegen blickt oder wer „die Menschen“ sind, die Unrecht erfahren und selbst die Kraft haben, um dagegen vorzugehen. Aynur habe ich bei den Streikversammlungen kennengelernt. Als ich sie gefragt habe, ob sie bereit wäre, dass ich für Neues Leben ein kurzes Interview führe, war sie sofort einverstanden. „Ich mach mit, kein Thema. Aber sag mal, Neues Leben – wo kann man denn die Zeitung kaufen? Ich kenne die Zeitung noch gar nicht.“ Ich erzähle ihr etwas über die Zeitung und verspreche ihr, zu unserem nächsten Treffen eine Ausgabe mitzubringen.

Die Geschichte einer Kassiererin

Aynur ist eigentlich gelernte Zahnarzthelferin. Doch nach der Hochzeit und dem Umzug nach Baden-Württemberg musste sie die Arbeit aufgeben. Hier angekommen, hatte sie es nochmal versucht in ihrem Wunschjob zu arbeiten. Es gelang ihr über eine Zeitfirma, doch nachdem sie krankheitsbedingt ausfiel, wurde sie vor die Tür gesetzt. Kassiererin bei real,- wurde sie ganz ungeplant: „Ich war dort einkaufen und habe dann ganz zufällig den Aushang gesehen. Sie suchten nach einer Kassiererin. Ich habe nicht lange gezögert. Ich war damals arbeitslos. Den ganzen Tag zuhause bleiben war nichts für mich. Ich habe mich dann auf die Stelle beworben und seitdem arbeite ich als Kassiererin bei real,-“. Das war im Jahr 1999, also vor genau 20 Jahren. Am Anfang arbeitete Aynur noch in Vollzeit, nach der Geburt ihrer zwei Kindern nun in Teilzeit. Sie war damals eine der wenigen Frauen mit Migrationshintergrund, was leider nicht immer einfach war. Aynur berichtet, dass sie schon früh gemerkt hat, dass sie wegen ihrer Herkunft nicht selten Vorurteilen und Schikanen von ihren Vorgesetzten ausgesetzt war. „Uns Migrantinnen haben sie uns immer an die schwersten Kassen gesetzt. Wenn wir uns beschwert haben, hieß es immer: Wollt ihr etwa nicht arbeiten.“ Was soll man tun, wenn der Betriebsrat fast ausschließlich aus Führungskräften besteht und er aktiv daran arbeitet, den Zusammenhalt der Beschäftigten durch das Streuen von Vorurteilen zu gefährden? Bei Aynur ist genau das eingetroffen.

Die Gewerkschaft kam zu mir

Aynur ist seit über 10 Jahren gewerkschaftlich organisiert. Als ich frage, wie sie den Weg zu Gewerkschaft fand, antwortet sie: „Die Gewerkschaft kam auf mich zu. Wir hatten damals Streik. Ich befand mich in Mutterschutz. Eine Kollegin vom Betriebsrat rief mich an und fragte, ob ich schon ver.di Mitglied bin und wenn nicht, sollte ich es sofort werden. Damals ging es wieder darum, ob wir den Tarifvertrag verlieren oder nicht. Ganz ehrlich, bis dahin wusste ich nichts von der Gewerkschaft. Wie auch? Ich ging arbeiten, machte meine Schicht und ging dann wieder nach Hause. Bis eben eine Betriebsrätin mich zu Hause besuchte und mir das Mitgliedsformular brachte. Seitdem bin ich bei ver.di.“

Unbequeme Betriebsrätin

Nicht jeder Streit gegen Unrecht ist groß und schafft gleich eine öffentliche Aufmerksamkeit. Ist es nicht so, dass diese Kämpfe für das Gerechte im Kleinen, im Persönlichen geführt werden und dort auch wachsen, bis sie sich ähnlichen Kämpfen anderer Menschen anschließen? Zumindest war es so bei Aynur. Sie gehört zu denjenigen Frauen, die nicht resignieren oder den Streit anderen überlassen wollen. So lebt sie und arbeitet sie. Sie wollte nicht mehr hinnehmen, dass ihre Vertretung fast ausschließlich von Führungskräften besetzt war. Das musste sich ändern. „Der Betriebsrat ist der Platz für die Arbeiter*innen. Nur Arbeiter*innen können ihre Interessen vertreten – ist es nicht so?“ fragt sie mich und beantwortet selbst die Frage. Im April 2018 nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ließ sich für die BR-Wahl aufstellen, bei der sie dann auch gewählt wurde. Seitdem gilt sie als die „Unbequeme“ im Gremium, worauf sie ganz stolz ist.

Wir müssen kämpfen

Tarifflucht, Hungerlöhne, gelbe Gewerkschaft, drohender Verkauf – all das sind Themen, die auf den Schultern der Beschäftigten schwer lastet. Die Unsicherheit ist groß, viele haben Existenzangst. Viel weniger Geld für die gleiche Arbeit, bei längeren Arbeitszeiten und und… Einige Kolleginnen von Aynur haben bereits selbst gekündigt oder suchen eine neue Arbeitsstelle. „Die meisten sitzen zwischen zwei Stühlen. Sie können sich es nicht leisten zu kündigen, wissen aber auch nicht, wie es weitergeht. Es sind vor allem Frauen, alleinerziehende Mütter, die nur zu bestimmten Zeiten arbeiten können. Es ist schon so, dass viele in einer Wartehaltung sind. Mal schauen, was kommt. Aber jede, die was findet, geht. In unserer Filiale wurden ca. 40 neue Mitarbeiterinnen nach dem DHV-Tarif eingestellt. Sie bekommen bspw. als Kassiererin 13 Euro brutto die Stunde. Das sind fast 5 Euro weniger als das, was wir verdienen. Davon kann doch niemand leben! Wir müssen etwas tun. Aber ohne Gewerkschaft können wir nichts verändern, wir brauchen sie. Das versuche ich jedes Mal meinen Kollegen zu erklären. Kein Arbeitgeber würde doch von sich aus uns mehr Gehalt, mehr Urlaubsgeld etc. geben. Wir müssen kämpfen, mit unserer Gewerkschaft. Gerade jetzt, wo der Arbeitgeber sagt, dass ver.di nicht mehr unsere Gewerkschaft ist.“

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