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Was bleibt nach den stürmischen Protesten in Frankreich?

Yıldız Eren / Paris

Das Jahr 2023 begann in Frankreich mit Protesten und Streiks, an denen sich Millionen Menschen beteiligten. Ist die Bewegung gegen die Reform voller Angriffe auf die Rentenansprüche nach wochenlangen Kundgebungen, Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen nun beendet? Das Gesetz wurde vom Verfassungsrat bestätigt und Präsident Emmanuel Macron unterzeichnete das Dekret, mit dem das Gesetz am 14. April um Mitternacht in Kraft trat. Für viele ist der Kampf nicht vorbei, sondern wird weitergehen; die Gewinnerin aber ist trotzdem die Arbeiterbewegung.

Premieren für die Regierung und Premieren für den Widerstand

Diese Regierung hat die Verabschiedung des Gesetzes mit Gewalt erzwungen und diese Gewalt in allen Bereichen angewendet. Die Weigerung, das Gesetz dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen, die Blockade von Debatten, die Entsendung von aggressiven Sondereinheiten zu den Demonstrationen, der Terror gegenüber der Jugend, die erzwungene Unterbrechung von Streiks, die erzwungene Entfernung von Lastwagen aus einigen Lagern, in denen Reinigungskräfte streikten… all dies waren Methoden, die die Diktatur des Kapitals in Frankreich noch nie zuvor angewandt hatte.

Die vielleicht wichtigste Errungenschaft der Widerstandsbewegung war das, was an der Gewerkschaftsfront geschah, als die Gewerkschaftsbünde zum ersten Mal vereint gegen die Regierung auftraten und ihre Einheit bis zum Ende aufrechterhielten. Diese Haltung wurde von der Basis der Gewerkschaften mit Freude aufgenommen.

Betrachtet man den soziologischen Status der Millionen von Menschen, die an den Aktionstagen teilnahmen, so kann man sagen, dass es sich um einen Widerstand handelte, der verschiedene soziale Kategorien vereinte. Der Hauptteil der Bewegung bestand aus Arbeitern, Studenten, Lehrern, Angestellten aus dem Gesundheitswesen, Reinigungskräften, Metro-, Energie-, Hafen- und Ölarbeitern. Der Zusammenschluss von Intellektuellen und Kunstschaffenden für eine gemeinsame Sache, die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads der Arbeiter, die aus den Streiks mit einer neuen Motivation hervorgingen, waren wichtige Faktoren, die als Errungenschaften der Bewegung betrachtet werden sollten.

Die Beteiligung der Jugend an den Protesten und Boykotten war recht hoch. Es war vielleicht das erste Mal, dass Schülerorganisationen in einer sozialen Bewegung der Gewalt von Polizei und Gendarmerie ausgesetzt waren. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter erstatteten Hunderte von Strafanzeigen wegen der Gewalt der Polizei und der Spezialeinheiten während der Proteste.

Wenn sich das französische Volk erhebt…

Das französische Volk hat, getreu dem Motto „Wenn sich das französische Volk und die Jugend erheben, kann sich keine Regierung dagegen wehren“, das Land drei Monate lang jede Woche mit Widerstand überzogen. Hunderttausende gingen auf die Straße, von den entlegensten Städten bis hin zu den größten Ortschaften. In abgelegenen Städten, in denen sonst keine Kundgebungen oder Demonstrationen stattfinden, beteiligte sich fast die gesamte Bevölkerung an den Protesten.

Die massivsten Aktionen der letzten 30 Jahre; alle warteten mit angehaltenem Atem darauf, dass das Gesetz im Parlament diskutiert wird. Nach 30 Jahren des Scheiterns wurde ein gewerkschaftsübergreifender Aktionsausschuss für eine gemeinsame Aktion der Gewerkschaftsverbände eingerichtet. Alle großen Gewerkschaften, vom traditionell für den sozialen Frieden eintretenden christlichen Gewerkschaftsbund, bis hin zu den Gewerkschaften, die allgemein für ihre widerständige Haltung bekannt sind, folgten dem Beschluss dieses allgemeinen Aktionsausschusses.

Jede Woche wurde vorausgesagt, dass diese Einheit zerfallen und sich auflösen würde. Doch dem war nicht so. Eine Gewerkschaftsspitze, die sonst als Kompromissler und Vermittler bekannt ist, gab unter dem Einfluss der Massivität und Entschlossenheit der Bewegung nicht nach und verteidigte die Einheit der Bewegung mit einer kämpferischen Haltung. Dies war eine sehr wichtige Quelle der Moral für die Basis.

Immer wenn sich die soziale Bewegung in Frankreich erhob, waren die Regierungen traditionell dazu gezwungen einen Schritt zurück zu gehen mit ihrem Vorhaben. Das war die Tradition des Kampfes. Es wurden wichtige Prozesse durchlaufen, in denen Angriffe abgewehrt, die errungenen Rechte geschützt und neue Rechte erkämpft wurden. In vielen anderen Kämpfen mussten die Regierungen angesichts der Bewegung einen Rückzieher machen, und es war diese Tradition, die der Bewegung Zuversicht gab.

Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder gesehen, so z.B. bei dem Gesetz über die Zuweisung von Geldern für private und öffentliche Schulen im Jahr 1984, gegen das sich eine Jugendbewegung wehrte. Oder bei der Universitätsreform 1993 und dem „Juppe-Plan“ 1995, der auf den Abbau des Sozialversicherungssystems abzielte. Sie alle scheiterten am Widerstand der sozialen Bewegung.

In den letzten 20 Jahren haben die Regierungen, auf den Satz, dass „Frankreich nicht reformierbar ist“, geantwortet mit: „Als erstes müssen wir das brechen“ und jede Regierung, von Chirac bis Sarkozy, Fillon und Hollande, hat ähnliche Programme vorgelegt. Vorstöße, das Arbeitsrecht in Frankreich in Berufung auf die Auflagen und Kriterien der Europäischen Union zu ändern, waren zwar teilweise erfolgreich, aber das Mindestlohngesetz für Jugendliche oder andere Angriffe sind letztlich nicht durchs Parlament gekommen.

Im Jahr 2009 war die Regierung Fillon gezwungen, einen Gesetzesentwurf von Änderungen am Renten- und Sozialversicherungsrecht teilweise zu modifizieren. In der Vergangenheit wurden solche Angriffe nicht ohne Weiteres akzeptiert, was zu wichtigen Erfolgen, wie der Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden führte.

Die Regierung Macron, die 2017 an die Macht kam, musste sofort eine Subvention in Höhe von 13 Milliarden Euro akzeptieren, als die „Gelbwesten“-Bewegung 2018 das Land gegen die geplanten Erhöhungen der Benzin- und Treibstoffpreise überschwemmte und rund 300.000 Menschen in die Hauptstadt kamen.

Als Argument für das jüngste Rentenpaket wird ein „3-Milliarden-Defizit“ angeführt. Ökonomen zufolge stimmt das nicht: Es gibt kein Defizit in den Rentenkassen. Auch die Behauptung, dass jeder Rentner ein Mindestgehalt von 1200 Euro erhalten wird, hat sich als reine Propaganda erwiesen. Im Gegenteil, das Paket, das angeblich den Frauen einige „außergewöhnliche Möglichkeiten“ bieten soll, wird die Arbeiterinnen weitere zwei Jahre lang belasten. Heute sind mehr als die Hälfte der Beschäftigten, die die schwere Last des Gesundheits-, Reinigungs-, Bildungs- und Dienstleistungssektors tragen, Frauen.

Gegen den Willen der Bevölkerung

Während der Proteste von Januar bis zum 14. April gingen an manchen Tagen fast 3 Millionen Menschen auf die Straße und forderten die Rücknahme des Gesetzes. Die Bevölkerung war auf den Beinen, die Regierung war in einer Machtdemonstration. Macron und das Team seiner Premierministerin Borne haben die Bewegung heruntergespielt und ignoriert, nach dem Motto „auch das wird vorübergehen“. Angesichts des Widerstands und der Entschlossenheit der Bewegung begannen die Parteien, die im Parlament vertreten sind, aus Angst vor der Haltung ihrer Wählerschaft langsam, das Gesetz im Parlament zu diskutieren und anzukündigen, dass sie dagegen stimmen oder sich der Stimme enthalten würden, wenn es zur Abstimmung käme. Die Regierung verabschiedete das Gesetz dann per Dekret. Die Umgehung des Parlaments durch Artikel 49.3 der Verfassung, der nur in bestimmten Fällen zur Anwendung kommt, löste eine Gegenreaktion aus. Die Straßen waren tagelang überfüllt. Macron entgegnete: „Wir sind gewählt worden, ihr könnt uns nicht mit der Macht der Straße etwas aufzwingen“.

Inwieweit er das Volk repräsentiert, ist jedoch auch heute umstritten. Bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr haben nur 20 Prozent der Wähler im zweiten Wahlgang ihre Stimme abgegeben. 53 Prozent der Wähler gingen gar nicht erst zu den Urnen, und im zweiten Wahlgang erhielt er die Stimmen eines Teils der Bevölkerung, der die Bedrohung durch die extreme Rechte fürchtete. Am Wahlabend vor einem Jahr, am 24. April, gab er zu, dass er wusste, dass das Votum kein Vertrauensvotum war, und sagte: „Nicht alle, die für mich gestimmt haben, stimmten mit meiner politischen Linie überein“.

Wie geht es jetzt weiter?

Schließlich wurde das Gesetz am 14. April verabschiedet, am gleichen Tag ging die Massenbewegung erneut auf die Straße. Die Gewerkschaften ließen sich nicht entmutigen und erklärten den 1. Mai, den Tag der Arbeit, zum Tag des Widerstands gegen die Regierung. Sogar Gewerkschaftsvertreter aus ganz Europa werden mit ihren französischen Brüdern und Schwestern demonstrieren. In der gegenwärtigen Situation ist eine politische Minderheit an der Macht und die Gewerkschaften gewinnen mit ihrer kämpferischen Linie an Stärke.

Wir werden in der nächsten Zeit sehen, wie sie damit umgehen werden. Die Regierungspartei Renaissance ist jetzt in der Minderheit, und ihr Stimmenanteil wird auf nur 5 % geschätzt. Die rechte Partei hat sich zersplittert. Die linke Opposition hingegen hat die Forderungen des Volkes im Parlament verteidigt und sich an den Protesten und Demonstrationen der sozialen Bewegung beteiligt. Natürlich werden die kommenden Tage zeigen, wie das NUPES-Bündnis, das viele ideologische Strömungen in sich trägt, aus dieser Phase hervorgehen wird und wie weit die Einheit gehen wird. Die Behauptung, dass Le Pen, die Anführerin der extremen Rechten, mit ihrer populistischen Linie aus diesem Prozess gestärkt hervorgeht, ist nicht sehr glaubwürdig.

Die Auswirkungen der Bewegung auf die Gewerkschaften

Die CGT (Allgemeiner Gewerkschaftsbund) hielt ihren Kongress auf dem Höhepunkt der Proteste ab. Es wurde über die Notwendigkeit eines kämpferischeren Kurses diskutiert, und Sophie Binet wurde auf Empfehlung der Basis zur neuen Präsidentin gewählt, nicht der vom ehemaligen Generalsekretär Martinez vorgeschlagene Kandidat. Der Kongress der CFDT (Französischer Demokratischer Gewerkschaftsbund) wird ebenfalls am 12. Juni stattfinden. Was die internen Debatten in der Gewerkschaftsbewegung anbelangt, so wünschen sich die Basis eine kämpferischere Führung und sind der Meinung, dass ein unbefristeter Generalstreik notwendig ist, um ihre Rechte zu erlangen.

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