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Wohin geht die Friedensbewegung?

Sinan Köylü

Der Ukraine-Krieg hat drei entscheidende und miteinander zusammenhängende Fragen innerhalb der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland aufgeworfen, die zu ihrer heutigen Spaltung beigetragen haben. Die erste Frage ist die, nach dem Verhältnis der sozialen, gewerkschaftlichen und emanzipatorischen Kräfte zur eigenen Regierung und zum militärisch-ökonomischen Komplex, namentlich der NATO, dem die Bundesrepublik angehört. Die zweite Frage betrifft die politische Einschätzung und Einordnung des Krieges. Ist der Krieg, der in der Ukraine tobt, Produkt der Psyche eines Diktators? Wird er zwischen Kiew und Moskau oder zwischen Washington und Moskau geführt? Die letzte Frage schließlich ist jene nach dem praktischen Umgang mit dem Krieg. Kurz: Waffen oder Verhandlungen?

Die Folgen der unterschiedlichen Beantwortungen dieser Fragen liegen auf der Hand. Die Linkspartei beschleunigte seit dem 24. Februar letzten Jahres ihren Spaltungs- und Auflösungsprozess. Eine Mehrheit der Amtsträger und Funktionäre in ihren Reihen unterstützt unter dem Schlagwort des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine mit graduellen Unterschieden den Kurs der Bundesregierung. Waffenlieferungen und positive Bezüge zur NATO sind keine Seltenheit mehr im Forderungskatalog dieser Kräfte und für dieselben vereinbar mit einer linken Außenpolitik. Verwiesen wird auf die Notwendigkeit der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, die ohne ihre erhebliche Aufrüstung nicht zu bewerkstelligen sei. Die Unterschiede zu den offensichtlich staatstragenden Parteien verwischen zunehmend, in die blau-gelbe Volksfront reihen sich also auch Linksparteipolitiker, wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, ein.

Dem entgegnet der Flügel um Wagenknecht und Co. eine ganz andere Einschätzung des Krieges. Der Krieg wird mit seinen innenpolitischen Implikationen verknüpft. Drohende Rezession und Inflation sind Folgen der Sanktionspolitik, des sogenannten Wirtschaftskrieges gegen Moskau. Während die deutsche Wirtschaft jahrelang von russischer Energie unter Weltmarktpreisen profitierte, verteuern sich heute zunehmend neben den Lebensbedingungen der Menschen auch die Produktionsbedingungen deutscher Unternehmen. Kapital wandert ab, sucht konkurrenzfähige Produktionsbedingungen, wie beispielsweise in den USA. Die Deindustrialisierung Deutschlands stellt plötzlich eine reale Gefahr dar.

Krieg und Krise liegen im System

Inwieweit Krieg und Krise miteinander zusammenhängen, spaltet nicht nur die Linkspartei. Insbesondere im Zuge des Heißen Herbsts, der Proteste gegen die ungenügenden Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung von Inflation und Krise organisierten gleich mehrere Bündnisse unabhängig voneinander Aktionen, obwohl das gemeinsame Anliegen eine getrennte Mobilisierung obsolet machte. Während Bündnisse, wie „Genug ist Genug“, keine eindeutige Positionierung zum Krieg finden wollten, verknüpfte das Berliner Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“ die Kriegsfrage untrennbar mit der sozialen Frage und ihren Folgen. Eine zusätzliche aber in diesem Fall eher zufällige Spaltung in den sozialen Bewegungen und Protesten trat hervor und minderte unweigerlich den Druck von unten gegen die herrschende Politik der Bundesregierung.

Die realistische Einschätzung der drohenden Deindustrialisierung Deutschlands führte derweil zu einer vermeintlichen Identität der Interessen zwischen der deutschen Wirtschaft oder des Mittelstandes mit den Beschäftigten. Denn Abfluss des Kapitals bedeute schließlich auch Arbeitslosigkeit und Verarmung. Die Weltmarktstellung Berlins gegenüber Washington, der den größten Profiteur des Krieges darstellt, müsse daher gestärkt werden. Deshalb gelte der politische Kampf der Linken, insbesondere die ausdauernde Kritik Wagenknechts am Kurs der Regierung, nicht bloß den einfachen Lohnabhängigen, sondern einem aktuellen und zukünftigen Gesamtinteresse Deutschlands. So wurden genau diese Positionen Wagenknechts und Lafontaines in den rechts-bürgerlichen wie BILD offen diskutiert.

Nicht unbedeutend ist dieser Ansatz in der Beurteilung des Krieges für die aktuelle Zusammensetzung einer neuen Friedensbewegung. Sind es doch Parteien, wie die AfD, die die von Abstieg bedrohten mittelständischen Unternehmer oder Besserverdiener zu ihrer Stammwählerschaft zählen können. Es sind gerade die kleineren Unternehmen und jene, die von Deklassierung im wahrsten Sinne des Wortes betroffen sind, die sich vor einer Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft am direktesten fürchten müssen. Der Abfluss von Kapital und die Steigerung der Produktionskosten zermalmt jene zuerst, die sich nicht ins Ausland flüchten können.

Querfront gegen Krieg?

Die Frage nach einer phantasierten oder realen Gefahr einer Querfront innerhalb einer neuen Friedensbewegung wird so abhängig von der Einschätzung des Klassencharakters des Krieges. Geht es uns um die deutsche Wirtschaft? Oder wird der Krieg nicht doch auf dem Rücken der Werktätigen aller beteiligten Länder, allen voran der Ukraine ausgetragen, um am Ende zu entscheiden, welche Wirtschaft, welches Land, welcher Block als der Sieger hervorgeht? Und wird nicht, um die Position der deutschen Wirtschaft zu stärken und dem deutschen Kapital immer noch zumutbare Produktionskosten zu ermöglichen, die Verarmung großer Teile der Bevölkerung hierzulande in Kauf genommen?

Fragen über Fragen, deren Beantwortung die Zukunft der Friedensbewegung entscheidend prägen könnte. Denn wohin die Friedensbewegung geht, wird davon abhängen, inwieweit die gewerkschaftlichen Kräfte und die Werktätigen den Frieden zu ihrer dringendsten sozialen Frage machen, inwieweit aber auch Forderungen sozialer Bewegungen, wie die Umweltbewegung, mit der Frage nach Frieden verknüpft werden können, um den Massencharakter der Friedensbewegung entscheidend zu entwickeln. Der Ausgang einer neuen Friedensbewegung ist daher offen und bedarf der mutigen Teilnahme aller sozialen Kräften trotz Verleumdungstaktiken großer Medienhäuser und staatstragender Parteien, um dem mörderischen Kampf der Waffen im Ausland einen sozialen Kampf im Inland entgegenzusetzen.

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