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Antisemitismus, Apartheid und der goldene Bär

Alev Bahadır

Wie wir in der letzten Ausgabe berichteten, war die Berlinale 2024 voll mit hochpolitischen Themen. Der Abschluss des Filmfestivals war ein Knall, der eine Befassung mit dem Vorwurf des Antisemitismus, aber auch des Begriffs der Apartheid umso notwendiger macht. Einmal mehr sehen wir, wie der Forderung nach Frieden und dem Ende der Besatzung, indem sie zu Antisemitismus verdreht wird, zu Rufmord, sondern auch zu physischer Gewalt führen kann.

Vom 15. – 25. Februar fand die diesjährige Berlinale statt. Wie bereits in NL 344 ausführlich geschildert, war sie geprägt von Arbeitskämpfen, Antirassismus und der Frage nach der Vereinbarkeit mit der AfD, sowie vom Nahostkonflikt. Mit „No Other Land“ spiegelte eine Dokumentation von einem israelisch-palästinensischen Regiekollektiv die Zerstörung und Vertreibung im Westjordanland wieder. Auch der Abschlussabend war im Zeichen des Nahostkonflikts. „Cease fire now“ (Waffenstillstand jetzt) prangte auf Schildern, die Reden waren in vielen Teilen politisch. Als „No Other Land“ mit dem Dokumentarfilm-Preis ausgezeichnet wurde, sagte der palästinensische Co-Regisseur Basel Adra: „Es ist für mich sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade durch Israel abgeschlachtet werden“. Sein israelischer Kollege Yuval Abraham benannte die Zustände im Westjordanland als Apartheid. Auch der amerikanische Regisseur Ben Russell sprach von einem „Genozid“ in Gaza.

Der Missbrauch des Worts

Es gibt in Deutschland kaum ein Wort, das die gleiche Macht besitzt, wie „Antisemitismus“. Wenn wir die Geschichte Deutschlands betrachten, wirkt das auf den ersten Blick nicht verwunderlich. Besonders Deutschland muss im Umgang mit Antisemitismus sehr sensibel sein. Dass die Verbrechen des Hitlerfaschismus in der Generation danach nie aufgearbeitet und „einfach weiter“ gemacht wurde, sorgte (gemeinsam mit anderen Gründen) dafür, dass sich 1968 die Jugend gegen dieses Schweigen erhob. Doch was jetzt aktuell passiert, hat wenig mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun.

Wie pervers der Begriff des Antisemitismus zweckentfremdet wird, beschreibt Yuval Abraham. Denn ihm war nach seinen Worten bei der Preisverleihung Antisemitismus vorgeworfen worden: „Ein rechtsextremer israelischer Mob kam gestern zum Haus meiner Familie, um nach mir zu suchen. Sie bedrohten enge Familienmitglieder, die mitten in der Nacht in eine andere Stadt fliehen mussten. Ich erhalte immer noch Morddrohungen und musste meinen Rückflug stornieren. Dies geschah, nachdem israelische Medien und deutsche Politiker meine Preisverleihungsrede auf der Berlinale – in der ich die Gleichberechtigung zwischen Israelis und Palästinensern, einen Waffenstillstand und ein Ende der Apartheid forderte – absurderweise als „antisemitisch“ bezeichneten.

Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche, nicht nur um palästinensische Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen, sondern auch um Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen; die einen Waffenstillstand unterstützen, der das Töten in Gaza beenden und die Freilassung der israelischen Geiseln ermöglichen würde, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in der ganzen Welt.

Da meine Großmutter in einem Konzentrationslager in Libyen geboren wurde und der Großteil der Familie meines Großvaters von Deutschen im Holocaust ermordet wurde, finde ich es besonders empörend, dass deutsche Politiker im Jahr 2024 die Dreistigkeit besitzen, diesen Begriff gegen mich in einer Weise zu verwenden, die meine Familie gefährdet. Vor allem aber bringt dieses Verhalten das Leben des palästinensischen Co-Direktors Basel Adra in Gefahr, der unter einer militärischen Besatzung umgeben von gewalttätigen Siedlungen in Masafer Yatta lebt. Er ist in weitaus größerer Gefahr als ich.“

Auch in Israel hat die Rede eine Debatte ausgelöst. Während sich rechte Kreise auf Abraham stürzen und wie in seinem Zitat beschrieben, auch vor der Bedrohung seiner Familie nicht zurückschrecken, sind renommierte israelische Medien anderer Meinung. So schrieb Haaretz: „Es ist die Atmosphäre des Verschweigens, der Selbstzensur und der Verfolgung jeder Person, die Kritik am israelischen Regime äußert. Was ist so beängstigend an Abrahams Worten? In weniger als einer Minute beschrieb er eine Situation, die die meisten Israelis leugnen oder, noch schlimmer, völlig ignorant sind. […] Kritiker der Besatzung als Antisemiten zu bezeichnen, ist ein Verhaltensmuster, das aus der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit und ihren Gleichgesinnten importiert wurde. Gemäß diesem Spielbuch muss jeder, der Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern und der Besatzung äußert, sofort als ‚Unterstützer des Terrors‘, ‚antisemitisch‘ oder ‚Judenhasser‘ gebrandmarkt werden“.

Der echte Kampf gegen Antisemitismus

Antisemitismus ist nach wie vor ein großes Problem. Noch immer sind Jüdinnen und Juden, aufgrund ihrer Religion, Gegenstand von Verschwörungstheorien und Ziel von Gewalt. Deshalb muss ein ernstgemeinter Kampf gegen Antisemitismus da ansetzen, wo er am stärksten verbreitet wird. Und das sind rechte Kreise. Laut Bundesinnenministerium werden 84 % der antisemitisch-motivierten Straftaten von Rechten begangen. Doch anstatt dort entschieden vorzugehen, werden rassistische Feindbilder weiter fortgeführt. Es seien Migranten, die den Antisemitismus nach Deutschland bringen würden. Claudia Roth sprach neulich sogar von einem „ekelhaften offenen Antisemitismus“ bei „Linksradikalen“.

Die politischen Parteien und andere, vor allem antideutsche, Gruppen verstehen sich perfekt darauf, den Vorwurf des Antisemitismus gegen all jene einzusetzen, die die Politik der israelischen Regierung kritisieren. Übrigens so zu tun, als wären alle Israelis mit dem Vorgehen der Regierung und der Katastrophe in Gaza einverstanden, schärt die Menschen nicht weniger über einen Kamm und entmündigt sie – außerdem ist es einfach nicht wahr. Stattdessen erstickt man so jegliche Kritik am Partner Israel, den man übrigens nun auch mit Waffen versorgt, mit einem Wort. Und die Angst als Antisemit bezeichnet zu werden, ist so groß, dass viele Teile der linken Kräfte in Deutschland schweigen.

Und egal, was uns eingeredet wird: Kritik an der israelischen Regierung ist, solange sie nicht im Grunde gegen „DIE Juden“ gerichtet ist, nicht antisemitisch. Zu kritisieren, dass 30.000 Menschen in Gaza gestorben sind, ist nicht antisemitisch. Und ja, wenn eine der am besten ausgerüsteten Armeen der Welt seit Monaten Zivilisten in einem der dichtbesiedeltsten Orte bombardiert, sie von Wasser, Strom und Nahrung trennt, kaum Fluchtkorridore oder Evakuierung schafft, liegt es auch nahe von einem Genozid zu sprechen. Und ja, das Westjordanland ist von der israelischen Regierung völkerrechtswidrig besetzt. Palästinenserinnen und Palästinenser sind dort, aber auch in anderen Gebieten, Bürger zweiter Klasse, werden aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben, besuchen getrennte Schulen und vieles mehr. Von Apartheid zu sprechen ist also alles andere als abwegig. Genau diesen Umstand beschreiben Yuval Abraham und Basel Adra in „No Other Land“.

Es ist schwierig, sich dem entgegen zu stellen, aber wir sehen, dass gerade die, die am stärksten gegen Rassismus und Antisemitismus kämpfen oder diejenigen die aufgrund ihrer Herkunft Rassismus erfahren, mit diesem Vorwurf gebrandmarkt werden. Dass es vor allen Menschen, die selbst Israelis sind und die ihre Großeltern oder Eltern im Hitlerfaschismus verloren haben, nicht Halt macht, ist zwar nicht neu, aber nach wie vor pervers.

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