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Das Verbot der HDP und die Ein-Mann-Herrschaft

Hasan Ingiliz

Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Sahin will die kurdische und linke HDP (Partei der Völker) vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Eine Anklageschrift wurde am 17. März an das Verfassungsgericht in Ankara eingereicht. Damit folgt die Staatsanwaltschaft der Forderung des Staatspräsidenten Erdogan. Die Anklage wird mit dem üblichen Vorwurf der „Beteiligung an terroristischen Aktivitäten“ begründet. Die HDP würde die Integrität des Staates untergraben und ihre Mitglieder seien an terroristischen Aktivitäten beteiligt. Mangelnde Loyalität gegenüber dem türkischen Staat ist ein weiterer Vorwurf, weil die HDP sich beispielsweise gegen die völkerrechtswidrigen Militäroperationen der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien ausgesprochen hat.

Parteiverbote haben in der Türkei eine lange Tradition. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden mindestens 20 Parteien verboten, darunter seit den 90er Jahren mindestens 6 kurdische und sogar die Refah-Partei, die Vorgängerin der jetzigen Regierungspartei AKP.

Die HDP wird seit ihrer Gründung beschuldigt, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Die HDP-Spitzenpolitiker haben sich immer von Terroraktivitäten distanziert, aber auch lautstark betont, dass Kurden unter dem Staatsterror der Türkei leiden. Bereits jetzt sitzen zahlreiche Funktionäre und ehemalige Abgeordnete der drittgrößten Partei im türkischen Parlament im Gefängnis, mehr als 45 vom Volk gewählte HDP-Bürgermeister wurden bereits abgesetzt und durch staatstreue Zwangsverwalter ersetzt. Sechs Millionen Wählerstimmen hatte die HDP 2018 bei den Parlamentswahlen bekommen. Gegen mehr als 600 HDP-Funktionäre, darunter auch der frühere Vorsitzende Selahattin Demirtas, der seit 2016 inhaftiert ist, beantragte der Generalstaatsanwalt zusätzlich noch ein fünfjähriges Politikbetätigungsverbot.

Immunität von Gergerlioglu aufgehoben

Wenige Stunden vor Verkündung des Verbotsverfahrens wurde die Immunität des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu aufgehoben, der wegen eines Friedensaufrufes zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war. Die Haftstrafe wurde in nächster Instanz vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Daraufhin ist Gergerlioglu in Berufung gegangen, aber ohne die Antwort des Berufungsgerichtes abzuwarten, wurde auf der Generalversammlung des türkischen Parlaments abgestimmt, wodurch die Immunität des Abgeordneten offiziell aufgehoben wurde. Der Menschenrechtsanwalt Gergerlioglu war vor seiner Wahl zum Abgeordneten Vorsitzender der muslimischen Menschenrechtsorganisation Mazlum-Der. Er setzte sich für Menschenrechte ein und hatte zuletzt mehrere Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt und angeprangert. Er repräsentiert innerhalb der HDP vor allem das religiös-konservative Milieu. Das wird vermutlich auch der Grund sein, warum die AKP ihn auf dem Radar hatte: Er bindet einen Teil der religiös-konservativen Wählerschaft, dem Klientel der AKP, an die HDP.

HDP – Kitt der Opposition

Tatsächlich hat die HDP als Dachpartei es geschafft, ein Spektrum von religiösen Kurden bis zu Linken und Sozialisten zusammenzubringen und sogar türkische alternative Wähler zu erreichen. So konnte sie bei den Parlamentswahlen 2015 aus dem Stand über 13% der Wählerstimmen für sich entscheiden, wodurch die absolute Mehrheit der Regierungspartei der AKP verhindert wurde. Seit 2002 hatte die AKP durchgehend die Mehrheit im Parlament geholt und konnte alleine regieren und ist seit 2015 auf die faschistische MHP als Koalitionspartner angewiesen. Seither ist die HDP ein Dorn im Auge der AKP und ist deshalb mit erheblichen Repressionen des Staates konfrontiert. Die zweite empfindliche Niederlage für die AKP und MHP besorgte die HDP bei den Kommunalwahlen 2019. Der „Nationalen Allianz“ der Opposition (CHP und İYİ-Parti) gelang es mit den Stimmen der HDP, die wichtigsten Metropolen des Landes, wie Istanbul und Ankara, zu erobern. Obwohl die HDP formell nicht zu der Oppositionskoalition angehörte, unterstützte sie die Kandidaten dieser Koalition. Erdogan und seine AKP versuchen vergeblich einen Keil zwischen die Oppositionsparteien zu treiben. Laut aktuellen Wahlumfragen liegt die Allianz der AKP und MHP hinter der Opposition und kommt auf knapp 40 %.

Nun geht die AKP auf`s Ganze: Nachdem die Massenverhaftungen gegen HDP-Mitglieder und -unterstützer (etwa 10.000 Menschen wurden in den letzten Jahren inhaftiert) und staatliche Repressionen nicht den gewünschten Effekt gebracht haben, soll die Partei verboten und ihre Köpfe mit Betätigungsverbot lahmgelegt werden. Es ist kein Geheimnis mehr, dass die AKP-MHP-Koalition die völlige Kontrolle über die Justiz übernommen hat. Die politischen Aussagen der Ein-Mann-Diktatur werden von Justizbehörden als Anweisungen oder als Befehl begriffen.

Erdogans Macht bröckelt

Seit einiger Zeit löst sich die Hegemonie des Ein-Mann-Machtsystem jedoch auf. Die anhaltende Wirtschaftskrise und der Versuch, jeglichen Kampf für demokratische Forderungen und Handlungen als „Terrorismus“ zu brandmarken, führt immer mehr zu Unzufriedenheiten in der Bevölkerung. In diesem Kontext versuchen Erdogan und Bahceli die Kurdenfrage als eine der wichtigsten Säulen zur Stärkung des bestehenden Systems zu nutzen. Die Kurdenfrage wird wiederkehrend als wichtigster Bestandteil sowohl bei expansiven Ambitionen (Syrien, Irak, Libyen) als auch bei der internen Repressionspolitik missbraucht. Die Anklage gegen die HDP zeigt, dass die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung eine neue Dimension erreicht hat. Dieser Angriff zielt nicht nur darauf, die demokratische kurdische Bewegung zu schwächen, sondern auch den politischen Boden der gesamten demokratischen Opposition zu zerstören.

Diese reaktionäre Politik erhöht die Spannungen im Land, polarisiert und spaltet die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Es ist deutlich geworden, wohin Erdogan gehen und welche Art von Regime er durch die Allianz mit MHP installieren will. Der Angriff richtet sich zunächst gegen die HDP, aber das eigentliche Ziel ist die Abschaffung der Hoffnung auf Demokratie und Aufbau eines faschistischen Regimes. Die Position der Opposition und die Haltung der demokratischen Öffentlichkeit insgesamt werden die Richtung der Politik mitbestimmen.

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