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Den Hungernden eine Stimme verleihen

Nilgün TUNÇCAN ONGAN

Der Ausnahmezustand in der Türkei wurde zunächst für drei Monate verhängt. Dann sollte er angeblich nach 45 Tagen aufgehoben werden. Jetzt sind wir im 10. Monat unter Ausnahmezustand und es ist nicht damit zu rechnen, dass er in absehbarer Zeit aufgehoben wird.

Spätestens seit den kritischen Stimmen aus Unternehmerverbänden werden die wirtschaftlichen Folgen des Ausnahmezustands immer wieder Gegenstand von öffentlichen Debatten. Diese dienten jedoch in allen Fällen dazu, dass die Unternehmer der Regierung stets neue Zugeständnisse abgerungen haben – eben wie zu Zeiten ohne Ausnahmezustand.

Die Wirtschaftskrise, in dem sich das Land befindet, beschränkt sich nicht nur auf Massenentlassungen und die Klassenwidersprüche unter den Bedingungen des Ausnahmezustands. Auch der menschliche Aspekt bleibt auf halber Strecke. Die Selbstmordrate ist gestiegen. Viele Menschen müssen berufsfremde Jobs annehmen, was in zahlreichen Fällen zu tödlichen Arbeitsunfällen führte. Mit Notstandsdekreten entlassenen Lehrkräften wird eine neue Arbeit fast unmöglich gemacht und ihre Familienangehörigen werden aus den Sozialsicherungssystemen ausgeschlossen. Zwei Lehrkräfte, die ihre Stimme gegen dieses Unrecht erheben wollten, befinden sich mitten in der Hauptstadt seit über 70 Tagen im Hungerstreik. Am 22. Mai 2017, dem Tag des Erscheinens dieser Kolumne, wurden Gülmen und Özakça festgenommen. Nach Angaben der Anwälte wurde die Festnahme damit begründet, dass man eine Umwandlung des Hungerstreiks in ein „Todesfasten“ verhindern wolle, um weiteren solidarischen und gesellschaftlichen Protesten wie beim Hungerstreik der Tekel-Arbeitern, zuvorzukommen.

Nuriye Gülmen und Semih Özakça möchten mit ihrem unbegrenzten Hungerstreik auf ihre Bedingungen aufmerksam machen. Den Menschen, die entlassen wurden, obwohl sie keine Verbindung zum Putschversuch hatten, möchten sie eine Stimme verleihen. Um es mit ihren Worten zu sagen: sie „wollen daran erinnern, dass das Brot Ehre heißt und einen unermüdlichen Kampf erfordert.” Dieses Ziel haben sie auch erreicht. Mit ihrem Kampf konnten sie aufzeigen, wozu das Regime der Notstandsdekrete geführt hat.

Die Befürworter dieses Regimes beschäftigen sich mit der Frage, warum sie so lange überleben konnten. Sie unterstellen ihnen, sich heimlich zu ernähren. Andere senden ihnen in sozialen Medien Fotos von zubereiteten Gerichten, was an die israelischen Soldaten erinnert, die ihre Mahlzeiten vor den Augen hungerstreikender palästinensischer Gefangener einnahmen. Wenn man diese Unmenschen außen vor lässt, sehen wir eine breite Solidarität mit Gülmen und Özakça.

Das Ziel von Hungerstreiks ist niemals das Sterben, sondern das Leben in Würde. Deshalb versucht man durch Einnahme von Zuckerwasser, Salz und Vitaminen die Dauer dieser Aktionsform zu verlängern bzw. zu verhindern, dass er nicht zu bleibenden Gesundheitsschäden führt. Deshalb zeugt die Frage, warum die beiden noch nicht gestorben sind, nicht von einem intellektuellen Geistesblitz, sondern vielmehr von einer Mischung von Boshaftigkeit und Unkenntnis.

Trotz dieser unterstützenden Maßnahmen haben Nuriye Gülmen und Semih Özakça die kritische Schwelle erreicht. Jede weitere Stunde könnte zu irreparablen Gesundheitsschäden führen. Die Geschichte der Türkei voller Beispiele dafür, dass die Forderungen von Hungerstreikenden erst nach deren Tod akzeptiert wurden. Die Regierung und die Gesellschaft müssen handeln, damit in diese Liste nicht ein weiteres Beispiel aufgenommen werden muss. Akademiker, Studierende und viele andere gesellschaftliche Gruppen haben aus Solidarität ebenfalls Hungerstreiks durchgeführt. Im Gewissen der Gesellschaft haben Gülmen und Özakça Recht bekommen; und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch vor Gericht Recht bekommen.

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