Mit einem von der BILD veröffentlichten „50-Punkte-Manifest“ haben die Auswirkungen des Kriegs in Nahost eine neue Dimension erreicht: Die Berichterstattung ist von Gift durchtränkt.
Der Begründung des Manifests: „Unsere Welt in Unordnung und wir mittendrin. Seit dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel erleben wir in unserem Land eine neue Dimension des Hasses – auf unsere Werte, die Demokratie, auf Deutschland.“
Auch wenn der Ausgangspunkt die Diffarmierung der Proteste zur Verurteilung der Angriffe der israelischen Regierung sind, weisen die giftige Sprache und der Inhalt des Manifests auf eine viel breitere und gefährliche Kampagne der Polarisierung hin: Eine Kampagne, die darauf abzielt, Migranten anderer Glaubensrichtungen und ethnischer Herkunft (insbesondere arabisch-, türkisch- und russischsprachige Menschen und solche, die dem islamischen Glauben zugehörig sind) einzuschüchtern. Es geht darum, den am 11. September 2001 begonnenen „Krieg der Kulturen“ wiederzubeleben. Darum, diejenigen, die eine rechte, nationalistische und rassistische Politik ausüben, weiter zu ermutigen. Darum, ein günstigeres Klima für die kriegstreibende, antidemokratische Politik der Herrschenden zu schaffen.
Was beinhaltet „das Manifest“?
Wer gegen die Angriffe der israelischen Regierung demonstrieren will, die den Tod tausender unschuldiger Zivilisten zur Folge haben, wird als „religiöser Extremist“, „Terrorist“, „Frauenfeind“, „Frauen- und Umweltfeind“, „Steuerhinterzieher“, „Sozialhilfemissbraucher“, „jemand, der ein Messer in der Tasche hat“, „jemand, der kein Schweinefleisch isst“, „jemand, der ein Kopftuch trägt“, „jemand, der seinem Gegenüber bei der Begrüßung nicht die Hand gibt“, „jemand, der kein Deutsch gelernt hat“ bezeichnet. Das mag wie ein Scherz klingen, ist es aber nicht: mehr als die Hälfte der Artikel im Manifest von Bild enthalten diese Anschuldigungen und bewußt gewählten Formulierungen! Zum Beispiel: „29: Man muss keine Jungfrau sein, um zu heiraten!“
DIE VERTEIDIGUNG EINES VOLKES DARF NICHT DAS LEID EINES ANDEREN SEIN!
Eines der vielen verzerrten Themen ist der Holocaust. Also das sensibilste Thema, das in Deutschland eingebracht werden kann. Artikel 8: „Vor dem Hintergrund des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte ist die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson! Das heißt: Das Eintreten für die Sicherheit des jüdischen Volkes ist nicht verhandelbar. Kritik an der Politik Israels ist selbstverständlich erlaubt”. Diese Aussage ist wichtig, weil sie auf eine Illusion hinweist, die bewusst oder unbewusst von einer Vielzahl von Parteien, Organisationen und Menschen in Deutschland, von rechts und links, vertreten wird. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die der Hitlerfaschismus an Millionen Jüdinnen und Juden begangen hat, dürfen niemals vergessen werden. Im Gegenteil, die Verbrechen des Faschismus, sowie deren Ursachen müssen im kollektiven Gedächtnis stets lebendig gehalten werden. Was aber inakzeptabel ist, und was BILD verzerrt, ist dies: Ist der Preis für den Völkermord an Menschen jüdischen Glaubens das Schweigen über die Verfolgung der Palästinenser? Oder eine andere entscheidende Frage: Ist die gegenwärtige israelische Regierung identisch mit dem „jüdischen Volk“? Warum sollte ein reaktionäres, unmenschliches Gesetz, eine Handlung und eine Politik der israelischen Regierung dem gesamten israelischen Volk zugeschrieben und unter allen Umständen als gerechtfertigt und legitim angesehen werden? Wenn dem so wäre, würden heute nicht Hunderttausende von israelischen Intellektuellen und Künstlern in vielen Ländern der Welt, in Deutschland und in den USA, mobilisieren, um gegen die Angriffe der israelischen Regierung auf das palästinensische Volk zu protestieren? Und wenn dem so wäre, wären in den letzten 10 Monaten nicht Hunderttausende von israelischen Bürgern in Israel auf die Straße gegangen, um gegen die Netanjahu-Regierung wegen ihrer undemokratischen Praktiken zu protestieren?
Das ist genau das, was BILD und die von ihr vertretene giftige Politik ignorieren und verzerren wollen: Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen Glaubensrichtungen und Kulturen, sondern um eine politische Spaltung zwischen den Klassen.
Interessant ist das Manifest von BILD auch wegen des folgenden Zerrbildes, das das bürgerliche politische Spektrum in unterschiedlichen Tönen äußert. Nämlich, dass Deutschland eigentlich so ein rosiges Land sei, dass wir ohne die Migranten, vor allem ohne die Zuwanderer islamischen Glaubens, weiterhin wie im Paradies leben würden.
VÖLKER UND REGIERUNGEN SIND NICHT EINS!
Antisemitismus ist inakzeptabel, genauso wie antiarabischer, antitürkischer oder antideutscher Hass. Natürlich ist es mit der Menschlichkeit unvereinbar, eine ganze Bevölkerungsgruppe zum totalen Feind zu erklären und zum Hass aufzustacheln. Aber politische Regierungen können natürlich in Frage gestellt, kritisiert und gegen sie protestiert werden. Netanjahu und die von ihm geführte Regierung repräsentieren nicht das gesamte Volk Israels, genauso wenig wie die Hamas das gesamte palästinensische Volk repräsentiert, so wie Erdoğan nicht die gesamte Türkei, Putin nicht das gesamte Russland oder die AfD nicht alle Deutschen repräsentiert! Die Völker aller Länder sind gleich, keins ist dem anderen überlegen oder privilegiert. Das Recht auf Leben ist für alle unbestreitbar. Mit anderen Worten: Die Sicherheit des israelischen Volkes kann nicht durch die Vernichtung des palästinensischen Volkes gewährleistet werden, und die Angriffe sind nicht zu rechtfertigen.
DIE ZAHL DER GEFLÜCHTETEN IST DAS ERGEBNIS IHRER POLITIK
Ein weiteres Beispiel für die Verdrehung der Tatsachen ist die Verzerrung der Geflüchtetenfrage. Hunderttausende von Menschen im zerbombten Gazastreifen sind offensichtlich auf den Status potenzieller Geflüchteter reduziert worden. Denn wenn sie nicht schon tot sind, werden sie nach Europa auswandern müssen, wie es die israelische Regierung gerne hätte, weil ihre Häuser, Schulen und Krankenhäuser zerstört sind. Wenn also BILD sagt, dass 3 Millionen Geflüchte zu viel für dieses Land seien, dann muss sie zuallererst der israelischen Regierung „Stopp“ sagen. Denn diese Menschen kommen nicht hierher, um herumzureisen und die deutsche Sozialhilfe auszunutzen. Sie sind die direkte Folge des Krieges und der Zerstörung in Palästina und der Ukraine, für die auch die westlichen Staaten Verantwortung tragen und für die BILD Beifall klatscht.
GLEICHBERECHTIGTES UND FRIEDLICHES ZUSAMMENLEBEN DER VÖLKER
Ja, es ist eine Tatsache, dass sich die Welt in einem großen Aufruhr befindet und dass die Polarisierung und Blockbildung zwischen den Regierungen der Länder immer schärfer wird. Deshalb sind Nationalismus und Rassismus in jedem Land die dominierende Form der Politik. Die Herrschenden wollen die gesamte Bevölkerung glauben machen, dass sie eine gleichberechtigte und homogene Gemeinschaft sind, und erklären die anderen zu Bedrohungen und Feinden. Wir müssen uns jedoch nicht zwischen Hamas und Netenjahu entscheiden, so wie wir auch nicht die USA oder Russland unterstützen müssen. Wir haben eine dritte Option – das Recht aller Völker, gleichberechtigt und geschwisterlich zu leben. Und dieses Recht müssen wir heute mit Nachdruck verteidigen. Der Weg dazu ist, die Politik der politischen Mächte in jedem Land zu hinterfragen und „Nein“ zu sagen zu sozialer Ungleichheit und Diskriminierung aller Art in jedem Land.