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Eine Wahl ohne einen richtigen Gewinner

Düzgün Altun

In den letzten Metern wurde die ganze Show ja doch noch spannend. Dieses Wochenende hat uns einen XL-Bundestag mit 735 Sitzen beschert. Von diesen 735 Sitzen werden 420 von Menschen besetzt, die entweder bei einem Konzern in der Führungsriege oder bei dessen Beraterunternehmen angestellt waren/sind. Von diesen 735, sind 190 unter 40 Jahre und lediglich 255 (35%) davon sind Frauen.

Mit 25,7 Prozent Stimmenanteil im Bund und die „Erfolge“ bei den parallel stattgefundenen Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, die einen zusätzlichen Schub gaben, sich als den grossen Gewinner darzustellen, wie es die SPD gerade macht, kann man durchaus als insolent bezeichnen. Die Unionsparteien CDU/CSU sind verständlicherweise mit ihren 24,1 Prozent völlig perplex.

Der Höhenflug der Grünen mit 14,8 Prozent hat auch ihre Grenzen erreicht. Mit einem Zugewinn von 0,8 Punkten auf 11,5 Prozent, kann die FDP vor Elan und noch verstärktem Snobismus schon gar nicht mehr gehen. Die Linke von 9,2 Prozent auf 4,9 Prozent halbiert, ist kurz vor dem internen Zerfall. Die AfD kann mit 2,3 Prozent weniger Stimmen ihre „Jäger-Rolle“, wie es ihr Vorsitzender Gauland mal verkündet hatte, auch nicht mehr halten.

Alle sind auf einmal „vollsozial“

Was auffallend war, ist dass alle Parteien im Handumdrehen ihre soziale Ader entdeckt haben. Sogar die FDP spricht von „sozial ausgewogener Politik“. Halleluja!

Es ist schon beeindruckend, vehement gegen eine Erhöhung von Mindestlohn und Vermögenssteuer zu sein, dann aber eine sozial ausgewogene Politik betreiben zu wollen.

In einer vorangegangenen Talkshow hatte Armin Laschet dem FDP-Chef Lindner erwidert: „Wens Sie von Wahrheit sprechen, dann werde ich immer skeptisch“. Dieser Satz, der den Charakter und die Seele der erz-neo-liberalen Politik wiedergibt, fand in der Folge der Sendung keine besondere Beachtung, doch für ein paar Sekunden hatte er für eine kalte Brise gesorgt.

Nun. Es ist, wie es ist. Der eine „staatsmännisch“ und siegessicher, der andere ein getriebener seiner eigenen Mannschaft. Laschets Stuhl wackelt heftig.

Alle, die vom Sturz des Verlierers einen Vorteil hätten oder sich Vorteile erhoffen, treten auch heftig gegen den Stuhl. So ist nun mal bürgerliche Politik. Gier, Verlogenheit, Täuschung und List bestimmen die Handlungen und das Denken.

Mehrheit der Berliner sagt: „Ja!“

Fast völlig untergegangen ist, daß am Sonntag in Berlin in der Volksabstimmung 56,4 Prozent der in Berlin lebenden sich für eine Vergemeinschaftung der „Deutsche Wohnen“ gestimmt hat.

Nicht nur in Berlin, im ganzen Bundesgebiet ist Gentrifizierung ein immenses Problem, was auch im Wahlkampf nebenbei thematisiert wurde und alle Parteien Zwang, Stellung zu beziehen. Ex-Familienministerin und Landtagswahlsiegerin und somit zukünftige Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD), die ihren Doktortitel wegen Plagiat wieder abgeben und als Ministerin zurück treten musste, antwortete auf eine Nachfrage, dass das eine rote Linie sei und sie alles zu tun gedenke, diese Abstimmung zu revidieren. Der früheren Familienministerin, die zuständig war auch für Kitas, ist völlig egal, dass es in Berlin schon soweit ist, dass nach Angaben des Dachverbands Berliner Kinder-und Schülerläden (DaKS) mehr als hundert Kitas, entweder schon schliessen mussten oder akut von Schliessung bedroht sind, weil die Vermieter die Mieten immer weiter in die Höhe treiben.

In Berlin wird gerade geprüft, ob die 3 Wahlen (Bundestags-, Landtagswahlen und die Volksabstimmung) wegen Unregelmässigkeiten wiederholt werden müssen. Nicht für Ungut. Der Gedanke, dass dadurch der Volksentscheid gekippt werden soll, ist nicht sehr weit, wenn über so eine Entscheidung bereits diskutiert wird…

Nicht auf die Lügen reinfallen

Junge Wähler haben ihr Kreuz wie erwartet am meisten bei den Grünen gemacht (22%), danach folgt mit 20% die FDP. Dabei spielen sicherlich Klimapolitik, Digitalisierung und persönliche Freiheiten eine große Rolle bei Jungwählern. Bedenklich ist aber vor allem, wo Arbeiter und Gewerkschafter ihr Kreuz gemacht haben. 9 Prozent der Gewerkschafter wählten die FDP und 12,2 % die AfD, insgesamt sogar 21% der Arbeiter bei der AfD. Das sollte für progressive Kräfte ein Warnruf sein, auf die Sorgen der Jugend und der Arbeiter zu hören.

Was die neue Regierung unter „sozialere Politik“ versteht, wird sich daran messen, wer die Staatsschulden, Investitionen, Transformation oder auch Klimaneutralität, bezahlen soll. Sowohl bei Scholz wie auch bei Baerbock und schon gar nicht bei Lindner, sieht es nicht danach aus, als ob sie die Konzerne und die Reichen zur Kasse bitten werden.

Die Erfahrung hat längst gezeigt, dass Veränderung ohne Bewegung nicht möglich ist. Auch wenn die Arbeiterbewegung und im allgemeinen die außerparlamentarische Bewegung in den letzten Jahren keine Kontinuität gewonnen hat und mehr von einander losgelöst als gemeinsam verlaufen ist, hat sie dennoch bewirkt, dass bei dieser Wahl die soziale Frage in den Vordergrund gerückt ist und der Unmut über die herrschenden Widersprüche sichtbar wurde. Das ist auch der Grund, warum alle Parteien auf die „soziale Schiene“ geschwenkt sind.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Die Linke hätte hier eine spürbarere Rolle spielen können, was sie nicht gemacht hat. Wofür sie steht und was sie von der SPD und den Grünen in ihrem Wesen unterscheidet, war nicht erkennbar. Ihre Kernthemen und Forderungen wurden und werden immer weiter aufgeweicht. Dieses Dilemma hat sich bei den Wahlen mit voller Wucht, mit zwei Millionen weniger Stimmen gezeigt. Besonders dramatisch waren die Verluste im bevölkerungsreichsten Bundesland, NRW. Von 7,5% auf 3,7% zu fallen ist nicht leicht zu verkraften. Mehr als die Hälfte der WählerInnen haben sich abgewandt. Wären nicht die Sonderregelung der drei Direktmandate aus Ostdeutschland, wäre sie aus dem Parlament rausgeflogen. Welche Schlüsse daraus gezogen werden, werden wir gemeinsam verfolgen.

Diese Wahl war weder ein Rutsch nach Links noch nach Rechts. Es ist mehr ein Ausdruck der weitergehenden Suche nach Alternativen. Der Ausdruck der Unorganisiertheit. Der Ausdruck der Widersprüche innerhalb der Bevölkerung und die „Unreife“ der subjektiven Faktoren.

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