Written by 12:00 HABERLER

„Funktionierendes Waschbecken kann kein Luxus sein!“

Zeynep Sefariye Eksi

Ayla Çelik ist seit 2012 Rektorin einer Gesamtschule in Köln. 2016 wurde sie Vorsitzende des Schulleitungsausschusses der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – GEW NRW und im Zuge dessen Mitglied im Landesvorstand der GEW. Auf dem Gewerkschaftstag 2019 wurde sie zur stellvertretenden Vorsitzenden der GEW gewählt. Seit Ende Juni 2021 ist Çelik Vorsitzende der GEW NRW.

Wie war der Schulanfang 2021/2022 unter Corona-Bedingungen? 

Wir sind auf jeden Fall weiter als letztes Schuljahr. Über 90 Prozent der Lehrkräfte sind geimpft. Das ist ein Fortschritt. In Anbetracht der Delta-Variante und der vierten Welle kann man nur sagen: Wir sind nicht da, wo wir sein müssten. Es wurden nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Bildung pandemiesicher zu gewährleisten: Noch immer gibt es Fenster, die sich nicht richtig öffnen lassen. Noch immer gibt es unhaltbare Zustände bei den sanitären Anlagen. Ein funktionierendes Waschbecken kann doch in einer Pandemie kein Luxus sein! Aus unserer Sicht braucht es flächendeckend in jedem Klassenraum Luftfilter als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme. 

Welche der vielen Versprechen der Regierung wurde aus Ihrer Sicht eingehalten? 

Bei der Digitalisierung sind wir durchaus große Schritte voran gekommen, beispielsweise mit der Ausstattung mit Endgeräten. Natürlich müssen wir auch sehen, dass wir von einem niedrigen Niveau kommen. Der durch den Bund und Länder beschlossene Digitalpakt für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur an Schulen hat erst mit der Pandemie Fahrt aufgenommen. Die längst überfälligen Investitionen in digitale Ausstattung reichen nicht ansatzweise aus, um die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems aufzuholen. Immer noch verfügt die Hälfte der Schulen in Deutschland nicht über WLAN. Nur rund 30 Prozent der Lehrkräfte berichten, dass die Klassenräume so eingerichtet sind, dass sie digitales Lehren und Lernen unterstützen. 

Die Anschaffung von digitalen Endgeräten ist der eine Teil der Wahrheit. Der andere Teil der Wahrheit ist: Es fehlen Systemadministratoren, die diese auch warten und bei technischen Problemen unterstützen. Es fehlt flächendeckend an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, um Lehrkräfte zu befähigen, diese digitale Mittel erfolgreich einzusetzen.

Aus Corona lernen heißt auch, hier konsequente Schritte zu gehen. Bildungspolitische Fehlentscheidungen und Versäumnisse der letzten Jahrzehnte haben uns viel Zeit gekostet. In Bildung zu investieren bedeutet für mich in Zukunft zu investieren: Ich wüsste keinen anderen Bereich, wo sich die Investition für unsere Gesellschaft und für die Demokratie mehr lohnen würde.

Durch die Medien ist schon bekannt, dass privat bezahlter Unterricht und Nachhilfe boomen. War Corona der Brandbeschleuniger?

Corona hat definitiv bereits vorhandene Ungleichheiten verstärkt, weil gerade sozial benachteiligte Familien schlechtere Bedingungen für Distanz- und Wechselunterricht hatten. Dass Nachhilfe-Anbieter einen Boom erleben, ist ein schlechtes Zeichen für die Bildung. Perspektivisch müssen Schulen über eine schulscharfe sozialindizierte Ressourcensteuerung in die Lage versetzt werden, die Schüler ihren Bedarfen entsprechend zu fördern. Das gelingt nur, wenn Bildung auskömmlich finanziert wird. Die Kompetenz muss zurück in die Schulen. Lehrkräfte brauchen Zeit und Raum, um Kinder und Jugendliche individuell zu fördern. Dafür braucht es mehr Lehrkräfte in den Schulen, multiprofessionelle Teams und eine Entlastung der Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben – wie der Wartung von Tablets. 

Kinder sind, je nachdem aus welchen Verhältnissen sie kommen, unterschiedlichen Bedingungen ausgesetzt. Die sozial ungleichen Lebensbedingungen führen zu ungleichen Chancen: Bildungsbenachteiligt sind nach wie vor Kinder aus armen Verhältnissen, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern und Kinder mit Migrationsgeschichte und vorhandenen Sprachbarrieren. Wir haben ein Bildungssystem, das diese ungleichen Startbedingungen und -Chancen nicht abfedert. Deshalb ist eine unserer Kernforderungen, dass der Bildungserfolg nicht von der Postleitzahl oder vom Geldbeutel abhängen darf: Die Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft.

Die GEW-NRW hat das Sofortprogramm “Bildung in der Pandemie” gefordert. Ganz kurz: was beinhalten Ihre Forderungen?

Das Programm besteht aus vier Säulen: Infektionsschutz ausbauen, Pandemiefolgen auffangen, Schulen personell unterstützen und die Digitalisierung vorantreiben. Alleine bei der personellen Ausstattung sieht man die Tragweite. Der Lehrkräftemangel in NRW ist chronisch: Letztes Jahr konnten die Hälfte der ausgeschriebenen Stellen an Grundschulen nicht besetzt werden. Es fehlen in diesem Jahr nur an den Grundschulen immer noch 1.450 Lehrkräfte. Wir fordern daher, die Studienkapazitäten auszuweiten und dafür zu sorgen, dass das Lehramt attraktiver wird. Das bedeutet, den unfairen Besoldungsföderalismus zu beenden und alle Lehrkräfte im Einstiegsamt gleich zu vergüten. Die ungünstigen Arbeits- und Lernbedingungen, die qualitativ und quantitativ gestiegene Arbeitsbeanspruchung und marode Schulbauten, müssen in den Blick genommen werden. Lehrer und Erzieher müssen über Ressourcen in die Lage versetzt werden, Kinder und Jugendliche ihren Fähigkeiten entsprechend bestmöglich zu fördern. 

Wie sehen Sie die Chancen, dass es so ein Programm geben wird, und wenn auch nur in Teilen? Wo und wie können Sie Druck aufbauen für die Realisierung? 

NRW gibt jedes Jahr 1.000 EUR weniger pro Bildungsteilnehmer aus, als die Bundesländer im Durchschnitt. Würde NRW hier zumindest gleichziehen, wären 2,5 Milliarden mehr vorhanden. Damit ließe sich einiges realisieren. NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer hat mit ihren Förderprogrammen, die sie zum Schulstart verkündet hat, auch einige unserer Ideen aufgenommen. Ich hoffe, dass sie auch hier ein Einsehen in die Notwendigkeiten hat. Der Sparkurs an der Bildung und somit an der Zukunft unserer Gesellschaft darf nicht fortgesetzt werden: erst recht nicht nach Corona, mit der Zunahme der sozialen Verwerfungen. Wir müssen als Gesellschaft die Chancengleichheit in den Blick nehmen. Kinder und Jugendliche der Zukunfts- und Perspektivlosigkeit zu überlassen, darf und kann keine Option sein.

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