Die 1980 gegründete Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) setzt sich seit über 40 Jahren für die Interessen der türkeistämmigen Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland ein und bemüht sich, den Widerstand in alle Bereiche des Lebens auszuweiten. Im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen, richtet die DIDF ihre Arbeit nicht auf ethnische oder religiöse Themen aus, sondern auf soziale Probleme in der Gesellschaft. Für sie haben die gesellschaftlichen Probleme eine sozio-politische Ursache. Das 60. Jahr der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland haben wir mit der Vorsitzenden Zeynep Sefariye Ekşi besprochen.
Welches Bild lässt sich zum 60. Jahr der Migration zeichnen?
Die Migration derer, die 1961 noch mit dem Traum der baldigen Rückreise kamen, hat dazu geführt, dass sie und ihre Nachkommen ihren Lebensmittelpunkt nun in Deutschland haben. Heute leben 2,8 Millionen Türkeistämmige hier, 1,5 Millionen sind hier geboren. Die Zahl derer, die hier geboren wurden, ist höher, als die der aktiv migrierten. Diese Relation verschiebt sich immer mehr in Richtung der hier Geborenen. Diese Tendenz wird die Teilhabe der Türkeistämmigen am gesellschaftlichen Leben und ihre Chancen, sich hier eine Zukunft aufzubauen, verstärken. Die Aussage, „wir sind nun Deutsche“, welche schon lange benutzt wird, wird sich mehr und mehr festigen.
Einige behaupten, dass die Türkeistämmigen nicht integrierbar seien ode die Integration gescheitert sei. Wie bewerten sie das?
Die Bundesregierungen haben Integration bisher immer oberflächlich definiert: Sprache lernen, Gesetzes-/Verfassungstreue und vermittelbar auf dem Arbeitsmarkt sein. Sie haben die Integration zur Privatsache erklärt, statt ihrer Verantwortung als Staat gerecht zu werden. Für uns ist Integration aber der gemeinsame Kampf von migrantischen und einheimischen ArbeiterInnen und Werktätigen für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn, der gemeinsame Kampf in Anbetracht gesellschaftlicher Missstände und für eine gemeinsame Zukunft. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet hat sich -trotz aller Probleme- der gemeinsame Kampf und das Miteinander in allen Bereichen des Zusammenlebens weit entwickelt. In diesem Kontext kann die Integration nicht auf das reine Erlenen der Sprache oder Gesetzlichkeiten heruntergspielt werden. Andersrum wird das gemeinsame Zusammenleben (Integration), sich durch die rechtlichen, sozialen, ökonomischen Errungenschaften der MigrantInnen weiterentwickeln.
GEMEINSAMER WIDERSTAND IN BETRIEBEN ERREICHT
Was z.B. hat den Zusammenhalt der Arbeitenden gestärkt?
Eines der wichtigsten Beiträge zum Zusammenkommen aller Arbeitenden in Deutschland waren die Änderungen im Betriebsverfassungsgesetz im Jahre 1972, mit denen allen Arbeitenden die Möglichkeit zur Teilhabe am gewerkschaftlichen Kampf, sowie an Betriebsrats – und Gewerkschaftsstrukturen ermöglicht worden ist. Türkeistämmige Arbeitende haben seither aktiv an Betriebsratswahlen und dem gewerkschaftlichen Kampf teilgenommen. Diese Phase hat den Übergang der Werktätigen verschiedenster Herkunft und Religion von “Gastarbeiter zu Arbeiter”, wie es einer der Organiatoren des legendären Köln-Ford Streiks sagte, beschleunigt. Auch am Kampf für die 35-Stunden-Woche 1984 im Metallsektor haben türkeistämmige Arbeiter aktiv teilgenommen. Genauso nimmt auch die sogenannte 3. Generation der türkeistämmigen Arbeitenden aktuell am Arbeitskampf im Betrieb und im Rahmen von Tarifrunden teil.
Auch heutzutage sind die Gewerkschaften die Spitze der Organisationen, die das Zusammenwachsen der Arbeitenden vorantreiben. Deshalb setzen wir uns seit unserer Gründung für die aktive Organisation in den Gewerkschaften ein. Diese Erfahrungen im gewerkschaftlichen Bereich müssen sich auf alle Bereiche des Lebens ausweiten. Besonders wichtig ist auch, dass die Türkeistämmigen sich am gesellschaftlichen Kampf in allen Bereichen des Lebens aktiv beteiligen. Was wir aus 60 Jahren Migration gelernt haben, ist, dass die Lösung unserer Probleme die vermehrte Beteiligung an gesellschaftlichen Bewegungen ist.
POSITIVE TENDENZEN MÜSSEN VERSTÄRKT WERDEN
Was muss die Regierung machen, um die Teilhabe der MigrantInnen am gesellschaftlichen Leben zu beschleunigen?
Richtige Schritte waren, auch wenn bei weitem nicht ausreichend, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahre 2000 und die Anerkennung Deutschlands als Migrationsland 2006. Obwohl Deutschland seitdem als Migrationsland gilt, wurden keine Schritte in Richtung der rechtlichen und sozialen Belange der MigrantInnen unternommen, positive Tendenzen wurden nicht verstärkt. Gestern wie heute geht es in der Migrationspolitik in Deutschland um den Bedarf an billigen Fachkräften.
Als Migrationsland muss Deutschland die Teilhabe aller MigrantInnen am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, die ihren Lebensmittelpunkt hier haben. Die Einbürgerung muss erleichtert, den Menschen, deren Lebensmittelpunkt hier liegt, muss die Staatsangehörigkeit ohne wenn und aber ermöglicht werden. Die Hürden bei der Teilhabe am politischen Leben für Nichtstaatsangehörige müssen beseitigt werden. Beim aktiven und passiven Wahlrecht, sowie der Teilhabe an Volksabstimmungen müssen rechtliche Änderungen geschehen. Um die jahrelange rassistische Migrationspolitik und geschürte Vorurteile zu beseitigen, muss es Programme zur gesellschaftlichen Partizipation von MigrantInnen geben. Rassistische Gruppen im Staatsapparat müssen aufgelöst, rassistische Organisationen verboten, und rassistische Anschläge müssen lückenlos aufgeklärt werden, um Ängste und Abkapselung in der migrantischen Bevölkerung ab und Vertrauen aufzubauen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag im gesellschaftlichen Zusammenleben. Jedoch wissen wir, dies alles wird nur durch gemeinsamen Widerstand möglich sein. Von den Regierenden wird nichts kommen.
Was muss nun, aus der Erfahrung der 60 Jahre, für die Zukunft folgen?
Die Errungenschaften in Deutschland sind durch den Widerstand der Arbeitenden entstanden. In Zukunft wird es notwendiger sein, dass die Arbeitenden einheitlich agieren. In der Pandemie haben sich die Probleme der Werktätigen vermehrt. Die derzeit angestrebte Regierung, egal welche Konstellation, wird keine Lösung auf diese Probleme bieten. Vor den Wahlen haben tausende Menschen für sichere Arbeitsplätze, gegen Wohnungsnot, eine bessere Gesundheits – und Klimapolitik protestiert. Diese Kämpfe zu verbinden und den Zusammenhalt zwischen den Arbeitenden zu bewirken wird ein besseres Zusammenleben beschleunigen. Die wichtigste Erfahrung der letzten 60 Jahre ist, dass die Arbeitenden, ohne Erwartungen an Regierungen, ihre Probleme selbst lösen und ihr Leben verbessern können, wenn sie sich zusammenschließen. Die Zeichen dafür stehen in der kommenden Zeit gut.