Dilan Baran
Mesut Bayraktar, geb. 1990, ist Autor der Romane »Briefe aus Istanbul« (2018), »Wunsch der Verwüstlichen« sowie »Aydin« (2021) und eines Sachbuchs zu G.W.F. Hegel »Der Pöbel und die Freiheit« (2021). Wir haben mit ihm über 60 Jahre Migration aus der Türkei, seine Schriften und das Theaterstück „Gastarbeiter-Monologe“ gesprochen, dessen Premiere am 25. November im Deutschen Schauspielhaus Hamburg stattfindet.
Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen jährt sich am 30. Oktober 2021 zum sechzigsten Mal. Was bedeutet das für dich?
Es ist kein Grund zum Feiern eines Jubiläums. Überhaupt denke ich selten in Jubiläen, in denen sich die Herrschenden staatsmännisch die Hände schütteln und die Gesichter von bürgerlichen Politikern überall zu sehen sind, die sich bemühen, je nach Anlass zu lächeln oder zu trauern. Ich denke in Kämpfen. Mit dem Abkommen verbinde ich als erstes ein Geschäft zwischen Managern und Kaufleuten. Als zweites die anonyme Hoffnung von Millionen junger Menschen. Und schließlich einsame Körper.
Was meinst du mit einsamen Körpern?
Wegen Helmut Kohl konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder nicht nach Deutschland kommen. Insgesamt sieben Jahre musste sie in einem Dorf am Schwarzen Meer warten, ganz allein und der Armut preisgegeben, und der Ehemann war in Deutschland. Ich spreche vom Rückkehrhilfegesetz 1983, das den Familiennachzug erschwert hatte und die rassistische Asylrechtsreform von 1993 vorbereitete. Viele denken bei der Arbeitsmigration aus der Türkei an eine Erfolgsgeschichte. Dass das eine Lüge ist, ist eine Sache. Die andere ist, dass nie erwähnt wird, dass unsere Mütter und Väter, Großmütter und Großväter aus ihren Lebenszusammenhängen gerissen wurden und in Deutschland abgeschottet lebten. Wenn ich im Fotoalbum meiner Eltern aus dieser Zeit blättere, sehe ich Jugendliche ohne Eltern, deren Unterkünfte Baracken glichen, welche man „Wohnheim“ und „Wohnung“ nannte. Ihre Körper hatten nur den einen Zweck, ausgebeutet zu werden für den Wiederaufbau eines in Trümmern liegenden Landes. Dass diese Körper berührt werden wollten, nach sozialer Geborgenheit, politischer Existenz, Sex und Wissen dürsteten, eine Vielzahl von Bedürfnissen unterdrückt wurden, gerade das machte sie einsam. Diese Einsamkeit war politisch gewollt.
In deinem jüngsten Roman „Aydin“, erzählst du aus der Sicht eines Neffen die Migrationsgeschichte deines Onkels, der 1982 nach Deutschland kam und 1991 in die Türkei abgeschoben wurde. Der Untertitel lautet „Erinnerung an ein verweigertes Leben“. Handelt der Roman von dieser Einsamkeit?
Ja, aber nicht nur. Mein Onkel ist Ende 2019 an Krebs gestorben, viel zu früh. Immer wenn ich ihn in der Türkei sah, wollte er jedes Detail über das Leben in Deutschland wissen und wenn er sprach, dann immer von den neun Jahren, die er hier verbracht hatte. Als ich erfuhr, dass er gestorben war, übermannte mich Trauer, Schmerz und Wut. Darüber war ich überrascht, bis ich merkte, dass das daran liegt, dass mir eine weitere vorbiografische Wurzel abgeschnitten wurde. Ich begann zu schreiben, über seine neun Jahre in Deutschland, anhand von Gesprächen mit meinen Eltern, mit Hilfe von Fotos, abgelagerten Erinnerungen und den Mitteln der Literatur. Ich wollte mit der Sprache einem Menschen begegnen, den ich nur aus Türkeireisen mit dem Auto kannte. Dabei ging mir auf, dass die 1980er Jahre einen Wendepunkt in der „Gastarbeiter“-Geschichte markieren.
Inwiefern?
Wenn man bei der abgedroschenen Metapher bleibt, dann wollte die erste Generation der „Gastarbeiter“ in erster Linie Geld verdienen, um es in die Türkei zu bringen, was für sie den Erwerb von Traktoren bedeutete und für den türkischen Staat Devisen. Sie sollten Körper aus zwei Armen und zwei Beinen sein. Nicht mehr. Den Bürgerlichen in der Türkei kam das Abkommen mit Deutschland gelegen, um den sozialen Druck auf den Straßen zu dämmen, und die Bürgerlichen in Deutschland brauchten händeringend Arbeitskräfte, um das Kreditkapitel aus dem Marshallplan mit lebendiger Arbeit zu mästen. Viele der ersten Generation, auch mein Opa, kehrten zurück in die Türkei. Bei ihren Kindern verhielt es sich anders. Sie konnten und wollten nicht unbedingt zurück in eine Republik, die auf patriotischer Angst gebaut ist und sich durch eine Serie von Militärputschen immer wieder aufrichtete. Aber die Zyklen der Kapitalakkumulation durchkreuzten ihre Pläne: 1973 die erste Ölkrise, anschließend der Anwerbestopp, die Streikwelle der 70er, die zweite Ölkrise 1979/80, die Regierung Helmut Kohl, der offene und bewaffnete Rassismus, Brandanschläge. All das schlug in den 1980er Jahren in ein Entweder-Oder um. Hier wurden die „Gastarbeiter“ endgültig erpresst. Viele gingen, viele blieben, die Legende vom ewigen Gast wurde Lügen gestraft und dann folgte der Mauerfall, die Konterrevolution siegte, was für die migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter vor allem Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, NSU-Mordserie, Hanau bedeutete. Der Traum war ausgeträumt. Dann kamen wir, meine Generation, die dritte – eingeschüchtert, aber unerschrocken, desillusioniert, aber unbeeindruckt, nicht mehr ganz türkisch, aber schon ganz deutsch.
Worum geht es bei den „Monologen“?
In erster Linie über ein bestimmtes Kapitel der jüngeren Geschichte Deutschlands. Vielfach wird dieses Kapitel mit Gewissensbissen verschwiegen. Die Monologe stellen sich dem Geschwätz von Integration, indem Marginalisierte aussprechen, was vor der sozialen Scham verstummt. Es geht um die kapitalistische Realität aus der Perspektive migrantischer Erfahrungen. Es geht um die Anerkennung migrantischer Leistung in Deutschland. Es geht darum, sich dem Rechtsruck und dem Rassismus als Klasse entgegenzustellen.
Und welche Geschichten werden erzählt?
Etwa die sechs Tage Streik im August 1973 in Köln, als die „Gastarbeiter“ deutlich machten, Teil der deutschen Arbeiterklasse zu sein. Eine junge Mutter erzählt, dass sie wegen Helmut Kohl nicht zu ihrem Mann nach Deutschland konnte. Eine Arbeiterin zeigt, dass sie sich mit ihren eigenen Händen ihr Leben geschaffen hat, welches nicht mehr von patriarchaler Männlichkeit umzingelt wird. Schließlich erinnert sich eine deutsche Angestellte an ihre erste große Liebe mit einem jungen türkeistämmigen Arbeiter. Die Monologe zeigen Menschen als Subjekte ihres Lebens, nicht bloß als Objekte und Opfer der Herrschenden.
Folgen weitere Aufführungen?
Ja, denn die Monologe sollen den Werktätigen, Arbeitenden und Unterdrückten gehören.