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Internationale Solidarität erleben und begreifen

Gewerkschafter*innen aus Südasien und Europa entwickeln praktische Solidarität

Sidar Carman

Mitte März sind rund zwanzig ver.di Hauptamtliche und Betriebsräte von Zara, H&M, Primark, Wallbusch und Esprit für eine Woche nach Bangladesch und Indien gereist. Aufgeregt vor dem, was uns Tausende Kilometer entfernt erwartet, stehen wir im Terminal am Frankfurter Flughafen. Die Tatsache, dass wir uns kaum oder gar nicht zuvor gesehen oder gekannt haben, war vom ersten Moment an nur noch nebensächlich. Nach 10 Stunden Flug landeten wir in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Während wir auf der Fahrt zum Hotel noch versuchten, zu begreifen, dass wir auf der anderen Seite des Globus sind, wurden wir überschüttet von so vielen Eindrücken, für die wir bisher nichts Vergleichbares kannten oder abrufen können. Was für eine Stadt, auf deren Straßen sich unzählige Arten von Fortbewegungsmitteln herumtummeln: Autos, Zwei-/Dreiräder, Rickschas, Busse, Lastwagen – allesamt in einem Zustand, dass es eigentlich unmöglich war, dass sie sich überhaupt einige Meter bewegen konnten. Was für ein Lärm! Die Fahrzeuge schienen aus allen Richtungen zu kommen. Über 17 Millionen Einwohner zählt Dhaka. 30 bis 40 Prozent der Einwohner leben in Armen- und Elendsvierteln.

Die Bekleidungsindustrie ist von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung für Bangladesch. In der Hauptstadt Dhaka wurden die meisten Fabriken einfach in Etagen von mehrgeschossigen Stadthäusern eingerichtet. Über 2 Mio. Menschen, davon mehr als 80 Prozent Frauen, fast alle unter 30 Jahren, viele aus ländlichen Gegenden in die Städte gezogen, produzieren in Tausenden Fabriken Bekleidung für den Export in die EU und die USA. Damit erwirtschaften sie gut drei Viertel der gesamten Exporteinnahmen des Landes. Die Arbeiterklasse in Bangladesch setzt sich überwiegend aus Frauen zusammen. Ihre Kämpfe für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sind unmittelbar verknüpft mit emanzipatorischen, frauenspezifischen Themen und Forderungen.

Dort, wo unsere Kleider produziert werden

Einen genaueren Einblick in die harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen sollten wir noch am ersten Tag bekommen – in der Stadt, in der vor sechs Jahren beim Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza über 1.100 Arbeiter*innen starben. Wir besuchen die Zuliefererfabrik basic appareal ltd., in der über 3000 Arbeiter*innen – meist Frauen – Kleider für europäische und US-Marken produzieren. Wir betreten die Fabrikhalle. Es ist heiß, die Luft ist stickig und uns überrollt ein betäubender Lärm der Nähmaschinen, über denen die Arbeiterinnen gebeugt Hosen produzieren. Wegen der Hitze in der Fabrikhalle tragen die Näherinnen keine Schuhe. Ihre Füße sind nackt, ihre Augen weichen nur minimale Sekunden vom Nähtisch ab, um uns mit einem warmen Lächeln zu begrüßen. Ich merke, wie schwer es mir fällt, die vielen Widersprüche zu erfassen und zu ertragen, die in der Fabrikhalle auf uns einprasselten. Die Arbeiterinnen haben unendliche lange Arbeitstage an sechs, teilweise sieben Tagen in der Woche. Sie stehen unter permanenter Arbeitshetze, um die hohen Produktionsvorgaben zu erfüllen. Eine Helferin verdient hier einen gesetzlichen Mindestlohn von rund 8.000 Taka, ca. 84 Euro. Die Produktionslinien wirken auf den ersten Blick sehr einfach. Aber jeder Handgriff ist bis zur Perfektion organisiert und abgestimmt, was sich auch durch eine hohe Produktivität äußert, wie die Arbeiterinnen später uns berichten. Pro Tag werden über 2000 Kleidungsstücke fertiggestellt.

Treffen mit Arbeitervertreter*innen

„Jeden Morgen marschieren wir zu Fuß zur Arbeit. Das Geld für Transport haben wir nicht. Wir können kaum Pausen machen, zur Toilette gehen oder etwas trinken, sonst schaffen wir die Produktionsziele nicht“, erzählt uns eine Arbeiterin der Fabrik am Abend in den Räumen der Textilgewerkschaft NGWF (Gewerkschaft National Garment Workers Federation). Der Gewerkschaft gehören über 30 registrierte Betriebsgewerkschaften und über 1.000 Fabrikkomitees an. Die Gewerkschaft hat rund 37.000 Mitglieder. In dem kleinen Raum sitzen über 20 Arbeiter*innen aus Fabriken, die für Marken ZARA, H&M, Primark, Tom Tailor, GAP oder Levi´s produzieren. Sie berichten über ihre Lage in den Fabriken und von ihren Kämpfen um gewerkschaftliche Organisationen. So erzählen sie, dass sie das Recht auf Mutterschaftsurlaub erkämpfen konnten, dass in den Fabrikkomitees eine Stelle für Frauenbeauftragte geschaffen wurde, wie sie es geschafft haben, monatlich eine Arbeiterversammlung durchzuführen. Die Kämpfe der letzten Jahre haben einige Verbesserungen durchsetzen können. Dennoch macht der massive Arbeitsdruck weiterhin viele krank. Auch Belästigungen durch männliche Vorgesetzte sind immer noch an der Tagesordnung. Der Kampf der Arbeiter*innen um Selbstermächtigung/Emanzipation bleibt nicht ohne Angriffe der Arbeitgeberseite. Sie reagiert mit Repression, Verhaftungen und Einschüchterung. NGWF Vorsitzender Amirul Amin erzählt, wie ihm vom Management einer Textilfabrik eine große Summe Schmiergeld angeboten wurde. Im Gegenzug sollte er darauf verzichten, den Betrieb gewerkschaftlich zu organisieren. Sogar das Ministerium schaltete sich ein und verlangte von der Gewerkschaft, ihre Aktivitäten in dieser Fabrik einzustellen, da sie den ausländischen Kapitalfluss in diese Fabrik gefährde.

Der Kampf um den gesetzlichen Mindestlohn

Anfang des Jahres streikten bis zu 200 Millionen Arbeiter*innen in Indien gegen die herrschende Politik der Regierung von Ministerpräsident Modi. Zeitgleich streikten und protestierten hunderttausende Arbeiter*innen in Bangladesch für einen höheren Mindestlohn. Über 11.000 Arbeiter*innen wurden entlassen, Hunderte sind in Polizeigewahrsam, gegen über 3.000 wurde Anklage erhoben. Mit einigen von ihnen sitzen wir im gleichen Raum. Sie erzählen, dass die Gerichtskosten tiefe Löcher in die eh knapp gefüllte Gewerkschaftskasse eingerissen haben. Um es vorab deutlich zu formulieren: sie betteln nicht um Geld. Ihre Diskussion geht in eine komplett andere Richtung. Sie wird politisch geführt, in dem sie den Blick auf die Stärkung ihrer Mitglieder und Organisation richten.

Solidarität (weiter) entwickeln

Unsere Reise führt uns weiter zur ExChains-Arbeitskonferenz nach Neu-Delhi, an der Kolleg*innen aus Italien und Bangladesch auch die Gewerkschaften GAFWU aus Chennai, GATWU aus Bangalore sowie die FTZ&GSEU aus Sri Lanka teilnahmen. Seit einigen Jahren erprobt das Netzwerk eine Strategie zur Stärkung der Verhandlungsmacht der Beschäftigten an beiden Enden der Wertschöpfungskette. Die Berichte der Delegationen führten uns vor Augen, dass der Drang der Arbeiter*innen auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, auf existenzsichernde Löhne, auf Schutz gegen Gewalt, gegen Belästigung und Vergewaltigungen am Arbeitsplatz in den Ländern Südasiens sich in eindrucksvollen Kämpfen wiederfindet. Immer wieder fällt der Satz, dass sich der Grad der Ausbeutung sich zwar zwischen den Ländern unterscheide, aber er den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital nicht aufhebe. Entlang der Wertschöpfungskette braucht es daher eine starke und kontinuierliche Zusammenarbeit, die die Solidarität zwischen Arbeiter*innen in Europa und Südasien stärkt und weiterentwickelt. Kennzeichnend für die Konferenz und deren politischer Grundhaltung ist jenes Zitat, mit dem ich abschließen will: „Gewerkschaften sind mehr als eine Organisation von Lohnkämpfen. Wir haben mehr Themen, wir wollen mehr! Uns geht es um politische Themen und Veränderungen. Und genau das weiß auch die Kapitalseite. Deswegen werden wir attackiert und unsere Arbeit eingeschränkt. Eben mit diesem Wissen sollten wir auf unsere Arbeit schauen und erkennen, dass jeder noch so kleine Schritt, den wir setzen, ein wichtiger Erfolg für die Rechte der Arbeiter*innen ist.“

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