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Internationale Solidarität, Geflüchtete und Internationalismus

İhsan Çaralan *

Die große Solidarität der Menschen nach dem Erdbeben ist trotz aller Inkompetenz der Behörden unglaublich. Aber es ist nicht nur die Solidarität der Bevölkerung innerhalb der Türkei, die Tränen in die Augen treiben. Das große Erdbeben ist und wird auch weiterhin ein gutes Beispiel für internationale Solidarität sein.

Die unmittelbar nach dem Erdbeben ausgerufene „Alarmstufe 4“ wurde mit herzlichen Beileidsbekundungen und der raschen Entsendung von Hilfeteams aus aller Welt beantwortet. Die Welt machte gegen die große Erdbebenkatastrophe mobil. Die ersten von Tausenden von Spezialisten, Such- und Rettungsteams, Ingenieuren, Seismologen, Suchhunden und voll ausgestatteten Feldlazaretten fanden sich bereits am Tag des Erdbebens in der Türkei ein.

Die Zahl der ausländischen Such- und Rettungskräfte aus 66 Ländern, von den USA bis China, von Deutschland bis Neuseeland, von Indien bis Japan, betrug 6.479. In der Erklärung der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD heißt es, dass 95 Länder und 16 internationale Organisationen Hilfe angeboten haben.

ERDBEBENOPFER SEHEN, DASS INTERNATIONALE SOLIDARITÄT UNERLÄSSLICH IST

In diesem Zusammenhang sollte man erwähnen, dass auch Griechenland, Israel und Armenien, die von chauvinistischen nationalistischen Kräften in der Türkei immer wieder als „alte Feinde“ dargestellt werden, ebenfalls Hilfe entsandt haben.

Wenigstens wird die Griechen-, Armenier- und Judenfeindschaft der chauvinistischen, nationalistischen und islamistischen Politiker nicht mehr auf so starke Resonanz treffen, wie früher! Die Völker der Türkei, insbesondere die 13,5 Millionen von Erdbebenopfern, haben wieder einmal erkannt, dass es keinen Grund gibt, dass die Völker einander feindlich gegenüberstehen.

Die Völker werden sich immer wieder als Feinde gegenübergestellt, weil die persönlichen und politischen Interessen der Machthaber, die die Länder regieren, dies erfordern. Die Menschen haben aber jetzt gesehen, dass die Hand, die sich ihnen angesichts dieser größten Katastrophe aller Zeiten entgegenstreckt, nicht nur die Hand ihrer Brüder und Schwestern aus Städten wie Istanbul, Izmir oder Trabzon ist, sondern auch die Hand der „Fremden“ aus der ganzen Welt, selbst derer, die als Feinde galten und dass diese Hand ihnen mit der gleichen Wärme und dem gleichen Mitgefühl entgegenstreckt wird, wie die des eigenen Landes. Und je länger die Bergungen andauern, desto mehr werden sie sehen, wie wichtig auch der Trost der Fremden sein wird.

ES IST NOTWENDIG, SICH GEGEN DIE PROVOKATIONEN RASSISTISCH-CHAUVINISTISCHER KREISE ZU WEHREN!

Doch ein Aspekt wird ausgeblendet. Alle 10 der vom Erdbeben betroffenen Provinzen gehören zu den Provinzen, in denen die meisten Geflüchteten der Welt leben. Nach UN-Berichten ist jeder zweite Einwohner von Kilis und jeder vierte oder fünfte Einwohner von Antep, Urfa und Hatay ein Mensch mit Fluchterfahrung.

Das Migrantenbüro der Partei der Arbeit (EMEP) gab am 9. Februar eine Erklärung zu diesem Thema ab und wies auf die Bedeutung der Solidarität mit den erdbebengeschädigten Geflüchteten hin. Das EMEP-Migrationsbüro forderte die Behörden auf, Informationen über die Zentren zu liefern, in denen die Geflüchteten festgehalten werden und die „Residenzpflicht“ für Geflüchtete unter vorübergehendem Schutz in Erdbebengebieten aufzuheben. Ähnliche Forderungen wurden auch von der „Zeitgenössischen Juristenvereinigung ÇHD“ erhoben. Wie in anderen Teilen des Landes lebten die Geflüchteten im Erdbebengebiet auch unter großen Schwierigkeiten in den meisten Behelfsunterkünften.

Bei dem Erdbeben waren sie wie alle anderen unter den Trümmern eingeschlossen; es ist nicht klar, wie viel Solidarität sie mit den Einheimischen in der Kälte, im Schnee und im Regen erfahren konnten und inwieweit sie Hilfe erhielten. Denn Opfer unter Geflüchteten werden in den 24-Stunden-Live-Übertragungen auf unzähligen Kanälen überhaupt nicht erwähnt, als gebe es sie gar nicht!

Auf der anderen Seite veröffentlichen rassistische, faschistische und menschenfeindliche Kräfte in den sozialen Medien Fotos und Videos, von denen meist nicht klar ist, wann und wo sie aufgenommen wurden, und die Geflüchteten als Diebe, Räuber und Plünderer zeigen. So werden Geflüchtete von anderen Erdbebenopfern ins Visier genommen, die verzweifelt und wütend sind und nicht wissen, wie sie Dampf ablassen sollen. Auf diese Weise wollen Hetzer und Spalter die Solidarität unter der Bevölkerung untergraben und den militärischen und polizeilichen Druck durch das Schüren von Konflikten legitimieren.

Rassistisch-chauvinistische Kräfte versuchen, die Wut und Verzweiflung, die durch die großen Zerstörungen des Erdbebens entstanden sind, auf Geflüchtete zu kanalisieren.

Ja, das Erdbeben hat den bestehenden Statusunterschied zwischen Geflüchteten und Einheimischen aufgehoben und alle gleichgestellt! Dies bedeutet zugleich, dass die Solidarität zwischen den erdbebengeschädigten Geflüchteten und den einheimischen Erdbebenopfern heute wichtiger ist, denn je. Wir stehen vor der humanitären Aufgabe, den rassistisch-chauvinistischen Diskurs zurückzudrängen und dafür zu sorgen, dass sie ebenso wie die Einheimischen von der Hilfe profitieren können. Im Kampf gegen die Darstellung von Migranten als Plünderer, Diebe und Banditen außerhalb des Erdbebengebietes sollten die Arbeiter und Werktätigen und ihre Gewerkschaften diese Umstände als eine Gelegenheit sehen, die „Brüderlichkeit der Werktätigen“ zu verwirklichen, die eine Voraussetzung für den Internationalismus der Arbeiterklasse ist, und als eine Gelegenheit, die Einheit und den Zusammenhalt unserer Arbeiterklasse zu stärken.

* entnommen, übersetzt und gekürzt aus der Evrensel vom 13. Februar 2023

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