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Jahresrückblick der internationalen Lage

Tonguç Güler

Das sich zu Ende neigende Jahr ist begleitet mit vielen alten Tendenzen, aber auch einigen neuen globalen Entwicklungen. Blockbildung, Militarisierung, Sozialabbau und Rechtsruck sind weltweite Erscheinungen eines internationalen Systems, das immer mehr an seine Grenzen kommt. Angefangen mit dem dritten Kriegsjahr in der Ukraine, über den voranschreitenden Genozid am palästinensischen Volk, bis hin zum Regierungsscheitern und den Regierungsneubildungen im Westen, befindet sich die Welt in einem zunehmend explosiveren Würgegriff jener Länder, die immer noch oder neuerdings federführend an der Ausbeutung und Niederhaltung der Weltbevölkerung beteiligt sind. Syrien und der Sturz des Diktators Assad sind nur ein neues Kapitel weiterer Anspannungen eben jenes Würgegriffes. Unter den federführenden Akteuren befindet sich auch der deutsche Staat mit seiner heiligen Wirtschaft. Unter dem Eindruck beschleunigter Neuaufteilungen des Weltkuchens, versuchen auch die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Berlin eine Neupositionierung Deutschlands mittels einer Anpassung der innenpolitischen, finanziellen, rechtlichen etc. Instrumente zu forcieren. Das Ampel-Aus ist das Ergebnis des Eingeständnisses, dass bisher keine regierungsfähige politische Kraft im Kanzleramt versammelt werden kann, die der, für die deutsche Wirtschaft notwendigen Neupositionierung, Schlagkraft verleihen kann.

Das Pulverfass im Nahen Osten

Der Genozid in Gaza, der den barbarischsten Ausdruck der derzeitigen Machtverschiebungen im Nahen Osten darstellt, blieb auch für die wirtschaftlichen Versorgungslinien des Westens nicht folgenlos. Der bereits im letzten Jahr begonnene Widerstand der Huthis, Schiffe im Roten Meer zu attackieren, wurde bereits im Januar diesen Jahres mit einer koordinierten militärischen Aktion Washingtons und seiner Verbündeten mittels Luftangriffe sanktioniert. Auch Berlin schloss sich im Monat darauf den Aktionen gegen die Huthis an, indem es seine Fregatte Hessen dorthin entsendete. Schließlich geht es um die Sicherung der eigenen Versorgung. Deutschland mischte auf maritimen Weg erstmals direkt im militärischen Geschehen mit, sieht man von der Ausbildung von Streitkräften im Irak ab.

Die Bewegungen im Nahen Osten tendierten zeitweise in Eskalationen, wie die Auseinandersetzung Israels mit dem Iran zeigen. Ein koordinierter und aller Wahrscheinlichkeit nach, Tel-Aviv und seine Verbündeten bereits in Kenntnis gesetzter, iranischer Raketenangriff sollte nicht das letzte Wort in der israelisch-iranischen Auseinandersetzung bleiben. Derweil sollten jedoch zwei gute Freunde mit rechtlichen Konsequenzen konfrontiert werden: Trump in den USA, der in allen 34 Anklagepunkten im New-Yorker Schweigegeld-Prozess für schuldig befunden wurde und Netanyahu auf der Weltbühne, gegen den vom Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ein Haftbefehl beantragt wurde. Die Beantragung mündete in einer Erlassung des Haftbefehls des israelischen Premiers. Besonders selbstentlarvend ist dabei die Reaktion der deutschen Bundesregierung, die die möglichen Folgen eines solchen Haftbefehls im eigenen Land prüfen wolle. Mit anderen Worten gilt das internationale Völkerrecht für Berlin nur dann uneingeschränkt, wenn dessen Anwendung und Durchsetzung nicht mit den eigenen Interessen kollidiert. Im Falle Netanyahus und dessen durchgeführten Genozids bleibt die Bundesregierung über das Jahr hinweg standhaft. Selbst Großbritannien beginnt Lizenzen für Waffenlieferungen nach Israel auszusetzen und deutsche Medien der Mitte fangen an, den bedingungslos solidarischen Kurs deutscher Politiker:innen zu hinterfragen.

Kriegspropaganda in Europa

Der große Krieg in Europa wird gegen alle Erwartungen seiner Beendigung fortgesetzt. Macrons Aussage im März, den Einsatz von westlichen Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen zu wollen und die Kursk-Offensive ukrainischer Streitkräfte im August, russisches Gebiet nicht nur zu bombardieren, sondern auch zu infiltrieren, zeigen, dass das Potential einer Eskalation nicht gebannt ist, solange der Krieg andauert. Russland eskaliert seinerseits mit der Erweiterung der Doktrin über den Einsatz von Atomwaffen und ebnet damit den Weg, Atomwaffen im Einklang mit eben dieser Doktrin, im Ukrainekrieg einsetzen zu können. Bei all der allseitigen Kriegstüchtigkeit wird jedoch aus den Augen gelassen, dass die Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Bevölkerung täglich zunimmt. Die Debatte um Verhandlungen erreicht sogar spätestens seit der Wahl Trumps im November die hoch-moralisierte und bellizistische deutsche Medienlandschaft.

Regierungskrise in Frankreich

Die vorgezogenen französischen Parlamentswahlen im Juni und Juli zeigen Entwicklungen, die selbst für uns hier im benachbarten Deutschland ihre Gültigkeit haben. Der Rechtsruck, auch im Parlamentarischen, ist allgegenwärtig. Der RN von Le Pen wurde stärkste Kraft und findet sein Pendant im Wahlsieg der AfD in Thüringen in den ostdeutschen Landtagswahlen im September. Die Wahlkrise der Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte ist jedoch hausgemacht. Macron löste das Parlament am Tag der Wahlen zum Europäischen Parlament auf, deren Ergebnis Ausdruck des Rechtsrucks in der gesamten EU ist. Doch vor der Auflösung des Parlaments, trickste Macron das Parlament im März per Umgehung aus, um eine Reform des Rentengesetzes durchzuprügeln, die das Renteneintrittsalters auf 64 Jahre schrittweise erhöhen wird. Länger arbeiten und genauso wenig davon am Ende übrig haben, bedeutet eine reale Verarmung der Bevölkerung Frankreichs.

Deutschlands Wirtschaft stagniert

Die Diskussionen um eine Erhöhung des Renteneintrittsalters finden auch hierzulande statt. Sie fallen in eine grundlegende Tendenz des deutschen Staates (aber auch der übrigen Industrieländer, wie wir am Beispiel Frankreich sehen), die sozialen Kürzungen mit einer steigenden Vehemenz durchzuführen. Die deutsche Politik nimmt dabei eine besonders aggressive Stellung nach innen hin ein. Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft verkleinern sich die Zugänge zu nichteuropäischen Märkten zunehmend. Der Wirtschaftskrieg zwischen Washington und Peking (dessen Konsequenzen auch vor den jeweiligen Verbündeten keinen Halt machen) einerseits und die steigende Konkurrenzfähigkeit von bspw. chinesischen Elektroautos andererseits, bringen die Kernbereiche der deutschen Wirtschaft an die Grenzen ihrer Profitmaximierung. An fehlender Produktivität fehlt es dabei hierzulande nicht. Es fehlt an Bedingungen, die Profite der Konzerne und ihrer Aktionäre zu vergrößern. Mit dem Wegfall eines direkten Bezugs russischer Energie unter Weltmarktpreisen, wird das rohstoffarme Deutschland in seiner Konkurrenzfähigkeit zusätzlich geschwächt.

Das Ampel-Aus im November ist hierbei nur das Zugeständnis, dass ein konsequenter und einheitlicher Kurs der Militarisierung, Sozialkürzung und Subventionierung der deutschen Wirtschaft bisher noch nicht realisiert werden konnte. Der Streit um die Schuldenbremse ist dabei nur Symptom eines Streits innerhalb der herrschenden Politik und Wirtschaft, um den „richtigen“ Weg. Und doch war die Ampel-Regierung bis zu einem gewissen Grad die temporär richtige Regierung für die deutschen Konzerne. So konnte ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister endlich der Militarisierung im Bewusstsein durch das Verlangen nach Kriegstüchtigkeit Vorschub leisten und eine sozialdemokratisch-grün-liberale Koalition mit dem im Oktober teilweise beschlossenen Sicherheitspaket eine Entrechtung der Geflüchteten und einen Schritt hin zum autoritären Staatsumbau forcieren.

Insbesondere nach der Wahl Trumps, zeitgleich zum Ampel-Aus, ist für alle Seiten der herrschenden Politik und Wirtschaft klar, dass Deutschland militärisch im Verbund mit Frankreich und Co. unabhängiger werden muss. Schließlich möchte ein Akteur, wie Berlin, nicht zwischen den Fronten Washingtons und Pekings zerrieben werden, sondern selbst mit Paris eine eigene Front bilden. Die vor Kurzem getätigte Aussage von Pistorius, das deutsche „Engagement“ in Syrien und der Region nicht zurückzufahren, kann ähnlich wie das bundesdeutsche „Engagement“ im Roten Meer am Anfang diesen Jahres, als Ausdruck eines zunehmend militärisch selbstbewussteren Deutschlands in der Welt gewertet werden.

Ohnehin ist Syrien ein Land, das im anfänglich beschriebenen Würgegriff der Großmächte befindet. Die Konfliktlinien der Groß- und Mittelmächte verdichten sich zwischen Mittelmeer und Euphrat beispiellos. Der im Oktober begonnene Einmarsch Israels in den Libanon, die daraus resultierende Schwächung der Hisbollah und des Iran, die Gelegenheit für Washington seinen chinesischen Konkurrenten im Nahen Osten zu schwächen, der Rückzug russischen Militärs und ein nicht unwahrscheinlicher Deal zwischen Moskau und Washington, die Rolle der Türkei als aufstrebendes Schwellenland: all diese Erscheinungen laufen in dem Sturz Assads im Dezember zusammen. Wäre man vor die Aufgabe gestellt, einen Ausblick für das kommende Jahr 2025 zu geben, so wäre folgende bescheidende Aussage, dass sich der Würgegriff um die Welt nicht lockern wird, wohl nicht unzutreffend.

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