Aylin Melis Ayyildiz
Mehr als fünf Millionen Menschen türkischer und kurdischer Abstammung leben in Europa. Seit den ersten „Gastarbeitern“ vor fast 60 Jahren waren Themen wie doppelte Staatsbürgerschaft, Immigration, Integration vs. Assimilation, EU-Beitritt oder Einbürgerung wiederkehrende Themen.
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei haben sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert und seit 2014 hat die Türkei spezielle Instanzen eingerichtet, die sich um die Belange der „Auslandstürken“ kümmern sollen. Alles in allem gibt es ein großes politisches und akademisches Interesse an der türkischen Diaspora und ihren Interaktionen mit der europäischen Gesellschaft und Politik. Aus diesem Grund hat das „Center for American Progress“ eine Studie zur türkischen Diaspora, ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft und deren Haltung zu unterschiedlichen Themen in Europa und in der Türkei in Auftrag gegeben. Zwischen November 2019 bis Januar 2020 wurden Online- oder Telefongespräche mit Kurden und Türken aus Deutschland (1.064 Befragte), Österreich (416 Befragte), Frankreich (452 Befragte) und die Niederlande (425 Befragte) durchgeführt. Die Ergebnisse wurden im Dezember 2020 veröffentlicht.
Traditionen wichtiger als Mehrheitskultur
Jeder 5. in Europa lebende Türke plant, in die Türkei zu gehen und dort zu leben. Von den in Deutschland Lebenden mit 27 Prozent sogar jeder 4. Jedoch wollen insgesamt 72 Prozent der Befragten ihren jetzigen Lebensmittelpunkt nicht wechseln.
Ca 72 Prozent der Befragten identifizieren sich in erster Linie als Türken/Kurden; nur in Frankreich war eine größere Identifizierung als Franzosen feststellbar. Eine wichtige Erkenntnis der Studie: Das „Türkischsein“, die Religion und die Weitergabe der türkischen Traditionen an die nächste Generation ist für die meisten Befragten viel wichtiger, als sich mit dem jetzigen Wohnsitz und der dortigen Kultur zu identifizieren.
Was die Sprache angeht, geben die meisten Befragten an, dass sie bei der Arbeit die jeweilige lokale Sprache, aber zuhause lieber türkisch sprechen. Die Befragten schätzten dabei ihre Türkisch-Kenntnisse hoch ein. 6 Prozent der Befragten identifizierten sich selbst hauptsächlich als Kurden und auch diese schätzten ihre Kurdisch.-Kenntnisse ebenfalls hoch ein. Es überrascht nicht, dass jüngere Befragte die Sprache ihres Wohnortes besser beherrschen als türkisch. In puncto Medienkonsum wird sowohl auf türkisch als auch auf deutsch Nachrichten geschaut, aber wenn es um Unterhaltung geht, wird türkisch klar bevorzugt. Türkischsprachige Fernsehsender kommen häufiger als türkischsprachige Zeitungen zum Einsatz. Grundsätzlich besteht ein hohes Interesse an Nachrichten über die Türkei und die Geschehnisse vor Ort, wobei die jüngeren Befragten etwas weniger auf Nachrichten aus der Türkei fokussiert sind, als die Älteren.
Im Allgemeinen haben die Befragten eine positive Einstellung gegenüber ihrer eigenen türkischen Gemeinschaft in dem Land, in dem sie leben und eine positive Einstellung gegenüber der lokalen nicht-türkischen Bevölkerung, eine etwas weniger positive Einstellung gegenüber der kurdischen Gemeinschaft und eine nur leicht positive Einstellung gegenüber nicht-türkischen Migranten und Flüchtlingen.
Staatsbürger dem Land verbundener
In Sachen Diskriminierung gaben die Befragten an, dass sie ein gewisses Maß an Diskriminierung gegenüber Türken in ihrem Land wahrnehmen. Dabei gaben nur wenige Befragte an, dass sie wegen ihrer Herkunft physisch angegriffen worden sind. Die Diskriminierung spiele sich eher in der Wahl des Berufs und den Karriereaussichten ab. Die Umfrage ergab hierbei, dass sich mehr Frauen als Männer in ihrem Land wohl fühlten.
Bei der Befragung zu Integrationsthemen, stimmte ein Großteil der Befragten zu, dass die türkische Gemeinschaft mit der breiteren, nicht-türkischen Gemeinschaft verbunden sein sollte, allerdings ohne ihre „türkische“ Identität zu verlieren. Generell standen Befragte ohne Staatsbürgerschaft des Landes den Integrationsbemühungen dieses Landes kritischer gegenüber als diejenigen, die bereits Staatsbürger sind. Die meisten Befragten sagten aber auch, dass ihr derzeitiges Land demokratischer ist, als die Türkei. Dennoch wünschten sich die meisten Befragten, dass das Land, in dem sie leben, die Türkei mehr unterstützt.
Über die Bildungssituation in ihrem Land, insbesondere die ihrer Kinder, waren die Befragten überwiegend zufrieden. Die meisten Befragten sind davon überzeugt, dass die Schulen in ihrem Land besser sind, als die Schulen in der Türkei. Nur wenige würden es vorziehen, ihre Kinder in der Türkei großzuziehen.
Insgesamt ist das Interesse an europäischen Politikern gering und das Engagement für europäische Politik begrenzt, was sich in hohen Antwortverweigerungsraten bei Fragen zu diesen Themen zeigt. Im Allgemeinen bevorzugen die kleine Anzahl der Befragten, die überhaupt auf diese Frage geantwortet hatte, eher linke Politiker und Parteien.
Türkische Nationalmannschaft wird bevorzugt
Wenn es zu einem Fußballspiel zwischen der Türkei und dem aktuellen Land der Befragten kommt – was oft als Maß für spontane Identifikation angesehen wird – sagen 76 Prozent, dass sie die Türkei unterstützen würden, 5 Prozent, dass sie ihr aktuelles Land unterstützen würden, und 11 Prozent, dass sie beide unterstützen würden. Aber wenn ihr aktuelles Land gegen ein drittes Land spielt, das nicht die Türkei ist, sagen 79 Prozent, sie würden ihr aktuelles Land unterstützen, während nur 3,5 Prozent sagen, sie würden das andere Land unterstützen.
Erdogan beliebtester türkischer Politiker
Die Umfrage zeigt gemischte Ansichten über die türkische Politik, einschließlich über Präsident Erdoğan persönlich und darüber, ob er sich um das Wohlergehen der Türken in Europa kümmert. Erdoğan ist jedoch beliebter, als alle anderen befragten türkischen Politiker, einschließlich des wichtigsten Oppositionsführers Kemal Kılıçdaroğlu, des nationalistischen Führers Devlet Bahçeli und des inhaftierten kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş.
Von den etwa 66 Prozent der Stichprobe, die die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, gibt eine klare Mehrheit an, dass sie bei den türkischen Wahlen 2018 mitgewählt haben. Ihre Präferenzen spiegeln in etwa die Lage in der Türkei wieder: Die AKP erhielt ca. 51 Prozent, die CHP 30 Prozent, die HDP 10 Prozent und andere Parteien zusammen nur 9 Prozent. Ihre selbstberichteten Stimmen bei den türkischen Präsidentschaftswahlen 2018 folgten einem ähnlichen Muster, und die Antworten stimmten in etwa mit den berichteten Stimmen für die jeweiligen Parteien im Parlament überein.