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Rekordstrafe gegen die Tageszeitung “Evrensel”

Das Erdoğan-Regime hat fast alle Print- und sonstigen Medien unter die eigene Kontrolle gebracht. Jetzt sollen die wenigen verbliebenen, unabhängigen und oppositionellen Medienorgane mit politischem und rechtlichem Druck zum Schweigen gebracht werden.

Das letzte Beispiel für die Verletzung der Pressefreiheit ist die Strafe, die gegen die Tageszeitung „Evrensel“ verhängt wurde. Das staatliche Institut für Presseanzeigen (BIK – Das Institut ist zuständig für die Vermittlung von Anzeigen staatlicher und kommunaler Stellen bzw. Unternehmen in Medien- Anm.d.Ü.) entschied, die Vermittlung von Anzeigen an Evrensel für die Dauer von 45 Tagen auszusetzen. Als Begründung für die Entscheidung wurde auf einen Kommentar des Kolumnisten Ragip Zarakolu unter der Überschrift „Kein Entkommen vor dem bösen Schicksal“ verwiesen. Von der Strafe ist die Print- und die Online-Ausgabe unter „evrensel.net“ betroffen. Die Rechtsanwältin der Zeitung, Devrim  Avcı, kündigte an, die Zeitung werde gegen den Beschluss in Berufung gehen: „Bei der 45-tägigen Aussetzung von staatlichen Anzeigen handelt es sich um die längste Strafe, die bis heute gegen eine Zeitung verhängt wurde. Diese Strafe wird mit einem Kommentar begründet, den ein Kolumnist im Rahmen seiner Meinungsfreiheit verfasst hat. Deshalb gibt es für die Strafe keine rechtliche Grundlage.”

WAS PASSIERTE…

In der Ausgabe vom 5. Mai 2020 erschien in „Evrensel“ unter der Überschrift „Kein Entkommen vor dem bösen Schicksal“ ein Kommentar von Ragip Zarakolu, der am selben Tag auch auf dem Nachrichtenportal „Artı Gerçek“ veröffentlicht wurde. Daraufhin wurde in den sozialen Medien ein Shitstorm gegen den Autor gestartet.

Kurz darauf stellten Staatspräsident Tayyip Erdoğan und sein Kommunikationsberater Fahrettin Altun Anzeige, die die Einleitung von Ermittlungen durch die Abteilung zur Verfolgung von Terror und Organisiertem Verbrechen der Oberstaatsanwaltschaft Istanbul zur Folge hatte. Dabei wurde gegen den Kolumnisten der Tatvorwurf erhoben, er habe „die Botschaft eines Putsches verbreitet und auf diesem Wege die verfassungsrechtliche Ordnung ins Visier“ genommen. Im Rahmen der Ermittlungen mussten der Chefredakteur von Evrensel, Fatih Polat und der Redaktionsleiter Görkem Kinaci, im Polizeipräsidium aussagen.

BIK LEITET ERMITTLUNGEN EIN

Auch das Institut für Presseanzeigen BIK beschloss auf seiner Sitzung am 13. Mai 2020 die Einleitung von Ermittlungen. Der Beschluss wurde damit begründet, der Artikel stelle einen Verstoß gegen gegen das Presseethikgesetz und gegen § 1, Abs, a, c, d und i des Beschlusses mit der Nr. 129 der Hauptversammlung des Presseethikrates dar. Im Rahmen der Ermittlung wurde auch die Redaktion der Zeitung zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert.

In ihrer Stellungnahme vom 27. Mai 2020 wurde darauf hingewiesen, in dem betreffenden Kommentar sei die politische Geschichte der Türkei in ihren Grundzügen skizziert worden. Darin habe der Kolumnist auf die Erfahrungen hingewiesen, die das Land bei Wahlen gemacht habe. Er sei auch auf die verschiedenen politischen Parteien eingegangen, um einen Regierungswechsel herbeizuführen bzw. an der Macht zu bleiben.

In der Stellungnahme wurde auch auf die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes, des Verfassungsgerichts und des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs hingewiesen. Der Artikel stelle in diesem Sinne eine zulässige Kritik und die Inanspruchnahme des Rechts auf Meinungsfreiheit dar.

KRITIK AM BIK-BESCHLUSS

Mit seinem Beschluss erntete das BIK scharfe Kritik. Die 45-tägige Aussetzung von Anzeigen wurde von Journalistenverbänden als ein Schlag gegen die Presse- und Meinungsfreiheit bezeichnet.

Der stellvertretende Direktor des International Press Institute (IPI), Scott Griffen kritisierte, das BIK nutze seine Macht, um kritische Medien zu bestrafen. Der Vorsitzende der Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS), Gökhan Durmuş, bezeichnete den BIK-Beschluss als “Bestrafung der Presse- und Meinungsfreiheit. Der Vertreter von Reporter ohne Grenzen (RSF) und Berichterstatter von Bianet, Erol Önderoğlu, sagte, das BIK sei nicht Herausgeber irgendeiner Zeitung und habe auch nicht das Recht, in die politische Linie von Presseorganen einzugreifen.

IPI: VERSUCH, EINE OPPOSITIONELLE STIMME ZU UNTERDRÜCKEN

Anlässlich der Strafe gegen Evrensel wandte sich das IPI mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit. Der stellvertretende IPI-Direktor Scott Griffen warf dem BIK Machtmissbrauch vor: „Obwohl internationale Gremien scharfe Kritik üben, bedient sich das BIK immer wieder des Mittels der staatlichen Anzeigen, um kritische Medien zu bestrafen. Diese Anzeigen stellen für die Medien in der Türkei eine wichtige Einnahmequelle dar.“

Während das BIK Verstöße gegen die Presseethik durch regierungsnahe Medien gerne übersehe, bestrafe es mit dem Machtmissbrauch missliebige Medien mundtot zu machen, so Griffen.

In seiner Erklärung erinnerte das IPI auch daran, dass der Kauf von zwei und mehr Zeitungen durch Leser mit dem Ziel der finanziellen Unterstützung in Vergangenheit ebenfalls zur Aussetzung von Anzeigen geführt habe: „Die unabhängige Zeitung Evrensel, die sich auf die Rechte der Beschäftigten konzentriert, wird durch das BIK ständig mit dem Entzug von Anzeigen bestraft. Ihr wird vorgeworfen, durch den Kauf von mehreren Zeitungen durch ihre Leser verstoße Evrensel insbesondere seit September 2019 gegen Gesetze, die den Zeitungsverkauf regelten. Obwohl Evrensel inzwischen technische Maßnahmen getroffen hat, um Sammelankäufe zu verhindern, blieb es bei den verhängten Strafen.“

Griffen forderte das BIK auf, den Entzug von Anzeigen nicht mehr als Waffe gegen kritische Medien einzusetzen. Es stehe in der Verantwortung, für eine pluralistische Medienlandschaft in der Türkei zu sorgen. „Entzüge von Anzeigen unter dem Vorwand „Verstoß gegen die Grundsätze der Presseethik“ durch das BIK nehmen zu. Nach unseren Recherchen verhängte es in den ersten fünf Monaten dieses Jahres gegen insgesamt 39 landesweite und regionale Zeitungen Anzeigenverbote von insgesamt 316 Tagen. Im Vergleich dazu hatte es im Zeitraum Januar-September 2019 gegen sechs Zeitungen für insgesamt neun Tage staatliche Anzeigen ausgesetzt. Anfang Mai sahen wir uns als IPI veranlasst, uns mit 20 anderen internationalen Organisationen mit einem gemeinsamen Brief an den BIK-Präsidenten Ridvan Duran zu wenden und von ihm mehr Transparenz bei entsprechenden BIK-Entscheidungen zu fordern.“

TGS: DIE STRAFE RICHTET SICH GEGEN DIE PRESSEFREIHEIT

Der TGS-Vorsitzende Gökhan Durmuş bezeichnete den BIK-Beschluss als „historisch“: „Das BIK muss autonom und fair sein. Wenn es einen Kommentar, der Gegenstand eines noch laufenden Gerichtsverfahrens ist, zum Anlass nimmt, um gegen eine Zeitung ein 45-tägiges Anzeigenverbot zu beschließen, dann ist diese Strafe in erster Linie gegen die Pressefreiheit gerichtet.“

Dieses und auch ähnliche Verbote in der Vergangenheit führe die Gewerkschaft TGS zu dem Schluss, dass es für „Medien, die nicht auf Staatslinie sind, ausgeschlossen ist, Anzeigen von

staatlichen Stellen zu bekommen. Dabei ist das BIK eine staatliche Verwaltungsbehörde, die über die Vergabe von Anzeigen entscheidet. Die Mittel, mit denen die geschalteten Anzeigen bezahlt werden, werden vom Steuerzahler finanziert. Es setzt also Steuern, die der Staat eintreibt, als Mittel ein, um unliebsame Medien auf Linie zu bringen. Eigentlich war das Ziel und der Zweck seiner Gründung, zu verhindern, dass Regierungen Anzeigen staatlicher Stellen einsetzen, um Druck auf Medien aufzubauen. Es ist also selbst zu einem Druckmittel gegen die Pressefreiheit verkommen, die es ursprünglich sichern sollten. Wir fordern die Wiederherstellung seiner Autonomie, damit Interventionen von außen in die politische Linie von Medien unmöglich sind.”

RSF: BIK-EINMISCHUNG UNZULÄSSIG!

Der RSF-Vertreter, Erol Önderoğlu, der auch als Berichterstatter für Bianet tätig ist, sprach dem BIK ebenfalls das Recht ab, sich in die politische Linie von Presseorganen einzumischen: „Eine 45-tägige Aussetzung von Anzeigen gab es noch nie. Für die Entscheidung, welche Zeitung Anzeigen von staatlichen bekommt, darf nur die Frage eine Rolle spielen, wie sie zu universellen journalistischen Grundsätzen, zu Hate Speach, Gewalt etc. steht.“

Bei den derzeitigen Ermittlungen würde versucht, einzelne Formulierungen aus dem Zusammenhang zu reißen und eine Straftat zu konstruieren. Der auf diese Weise erhobene Vorwurf der Unterstützung eines Putsches sei mitnichten zu belegen: „Denjenigen, die die Türkei immer noch als Rechtsstaat sehen, möchte ich empfehlen, sich anzuschauen, wer Ragip Zarakolu als Unterstützer von Putschisten beschuldigt. Er hat sich Zeit seines Lebens gegen Putschisten gestellt. Er gehört zu den Menschen, die den größten Schaden aus Putschen erleiden mussten.“

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