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Sie haben sich enttarnt

Nilgün TUNÇCAN ONGAN

“38 Vorlesungen, 5 Seminare und 50 Diplomarbeiten ohne Lehrkräfte.”

Das erklärte Prof. Dr. Ayhan Yalçınkaya, Leiter des Fachbereichs Politik- und Sozialwissenschaften an der Fakultät für Politikwissenschaften der Ankara-Universität – bekannt unter dem Namen „Mülkiye“. Sie beschreibt die schwierige Situation, in die eine der wichtigsten Fakultäten des Landes mit einem Notstandsdekret in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gebracht wurde.

Die nackten Zahlen machen deutlich, wie schlimm die Situation ist. Wie viel an akademischer Qualität dabei verloren ging, machen sie allerdings nicht deutlich.

Dieses letzte Dekret macht deutlich, welche neue Stufe jetzt bei der Suspendierung von oppositionellen Akademikern erreicht worden ist. Menschen, die fernab von jedem Verdacht sind, den Putschversuch unterstützt zu haben, die sich uneingeschränkt für die Rechte der Arbeiter und für den Frieden einsetzten, werden von den Universitäten entfernt – auf der Zielscheibe der Übergriffe steht zugleich eine Institution, die als Vertreterin kritisch-wissenschaftlicher Traditionen bekannt ist.

Das heißt, wir sind mit einer gesellschaftlichen Bedrohung konfrontiert, die viel weiter über das Unrecht gegen Hochschullehrer hinausgeht. Ihre Roben, die bei den Protestaktionen unter Polizeiboots gerieten, stehen nicht nur als akademische Symbole, sondern auch als solche mit Klassencharakter.

Trotzdem sollten wir diejenigen, die diese besagte, auf Widerstand und Solidarität beruhende Tradition angreifen, daran erinnern, dass ihr Vorgehen auch großen Gefahren für sie selbst birgt. Wer sich heute uneingeschränkt auf die Seite der Macht schlägt, werden nach diesen Angriffen nicht nur besiegt. Am Ende werden sie sich auch enttarnt haben.

So enttarnten sich auch bei dem letzten Notstandsdekret in Person vom Rektor İbiş alle Denunzianten. In einer Erklärung des Hochschulrats (YÖK) wurde bekannt gegeben, die Namenslisten der zu suspendierenden Lehrkräfte würden von den Rektoren zusammengestellt. Zu glauben, dass diese Mitteilung Grund genug für den Rücktritt aller Rektoren wäre, wäre äußerst naiv. Und dass sie sie nicht einmal dementierten, ist trotzdem sehr interessant.

Mit dieser Erklärung vom YÖK wurden frühere Vorwürfe bestätigt. Müsste die politische Macht in diesem Falle nicht nur Angaben zu den Suspendierten, sondern auch zu den Urhebern der Suspendierungen machen? Müsste sie nicht erklären, wen man damit stärker machen möchte? Denn der politischen Verantwortung entledigt man sich nicht, indem man die Zusammenstellung von Namenslisten anderen in die Schuhe schiebt.

Wir sollten nicht vergessen, dass die Suspendierungswelle mit der Entlassung der Akademiker an der Universität Kocaeli begann, die den Friedensappell unterzeichnet hatten. Im Zuge dessen wurden in den darauffolgenden Wochen und Monaten landesweit Hunderte Akademiker suspendiert, unabhängig davon, ob sie als Unterzeichner in Erscheinung traten oder nicht. Sich ausschließlich gegen die Folgen des letzten Dekrets zu stellen, reicht also nicht aus. Vielmehr würde es nur dazu dienen, dass die immense gesellschaftliche Problematik händelbar wird.

Andererseits werden mit dieser Praxis nicht nur die Studierenden ihrer Lernfreiheit beraubt. Auch werden damit nicht ausschließlich verdiente Akademiker ihrer Arbeit beraubt. Die Steuerzahler, die mit ihren Steuern einen großen Beitrag zu ihrer Ausbildung geleistet haben, werden um die Früchte ihrer Anstrengungen gebracht. Es geht also auch um Verschwendung gesellschaftlicher Reichtümer. Daher rührt der gesellschaftliche Klassencharakter der Angriffe. Sich dagegen zu stellen, ist deshalb eine gesellschaftliche Verantwortung.

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