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„Solidarität mit Katalonien – für das Recht auf friedliche Selbstbestimmung!“

Oktay Demirel

Katalonien ist die größte europäische Nation ohne eigenen Staat. Die Katalanen blicken stolz auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurück. Als Kataloniens Regierung vor einigen Jahrzehnten die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien erklärte, putschte (mit deutscher Hilfe) General Francisco Franco und begann den spanischen Bürgerkrieg, der zu einer neuen, jahrzehntelangen Phase der Unterdrückung der katalanischen Nation und ihrer Sprache führte. Wir haben mit dem Philologen Prof. Dr. Axel Schönberger (Uni Bremen) gesprochen, der auf change.org eine Petition gestartet hat. Prof. Schönberger befasst sich seit rund fünfunddreißig Jahren wissenschaftlich mit Katalonien.


Können Sie uns kurz die Unabhängigkeitsbestrebungen des katalanischen Volkes skizzieren?
Die katalanische Nation zeichnet sich durch eine eigene Sprache, eine tausendjährige Literatur, ein eigenes Brauchtum und beispielsweise auch eine eigene Rechtstradition aus. Nachdem am 11. 9. 1714 Barcelona vor den spanischen Truppen kapitulierte, wurde Katalonien einem harten spanischen Diktat unterworfen. Im 19. Jahrhundert erlebten die katalanische Sprache und Kultur eine Renaissance und der politische Katalanismus strebte seitdem nach Unabhängigkeit oder einer anderen Form der Lösung der katalanischen Frage, etwa in Gestalt einer „Iberischen Union“. Erst 1931 konnte in der Zweiten Spanischen Republik die katalanische Regierung, die Generalitat de Catalunya, wiedererrichtet werden. Als der Präsident der Generalitat im Jahr 1934 die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien proklamierte, suspendierte Madrid die katalanische Regierung. Nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) setzte der siegreiche Putschistengeneral Francisco Franco die Autonomie Kataloniens außer Kraft und ließ die katalanische Sprache und Kultur in ganz Spanien unterdrücken und verfolgen. Erst nach seinem Tod erlangte Katalonien 1979 mit einem neuen Autonomiestatut erneut eine allerdings nur sehr eingeschränkte Autonomie, die jedoch für damalige Verhältnisse zumindest ein Schritt in die richtige Richtung war. Ein neues, weitergehendes Autonomiestatut für Katalonien trat nach Beschluss durch das spanische Parlament 2006 in Kraft. Die konservative spanische Partei Partido Popular reichte gegen dieses Autonomiestatut eine Verfassungsklage ein, die im Jahr 2010 erfolgreich vom spanischen Verfassungsgericht beschieden wurde. Durch die Ablehnung der von einer Mehrheit der Katalanen gewünschten Autonomierechte des Statuts von 2006 nahm die Zahl der Befürworter einer staatlichen Unabhängigkeit Kataloniens seitdem zu. Die Ereignisse ab dem 1. Oktober 2017 dürften als «Katalanische Revolution» in die Geschichtsbücher eingehen und nicht nur Spanien, sondern auch die Europäische Union verändern.

Will die Mehrheit der Katalanen denn eine Abspaltung?
Während bis vor kurzem keine eindeutige Mehrheit für eine Unabhängigkeit erkennbar zu sein schien, dürfte inzwischen durch das von vielen Katalanen als unakzeptabel empfundene Vorgehen des spanischen Zentralstaates die Zahl der Befürworter der Unabhängigkeit die der Gegner überwiegen. Spanien hat mittlerweile wohl die Herzen von Millionen von Katalanen verloren und wird durch Gewaltanwendung die derzeitige Krise nur noch weiter verschärfen. Spanien mag die Abspaltung Kataloniens zwar erschweren oder verzögern, wird sie schlussendlich jedoch nicht verhindern können. Es wird letztlich insbesondere darum gehen, ob der Trennungsprozess friedlich oder in Form einer militärischen Auseinandersetzung verläuft und welche Geldsumme die Katalanen auch nach ihrer Staatsgründung dem spanischen Staat noch zu zahlen haben.

Wie bewerten Sie es, dass die Bundesregierung die gewaltsame Unterdrückung des katalanischen Referendums wenig kommentiert oder verurteilt aber z.B. bei der Krim-Krise sich sofort für Sanktionen gegen Russland aussprach?
Die Bundesregierung unterstützte damals nicht die verfassungsgemäß gewählte Regierung unter Wiktor Janukovitsch, sondern die gegen die Verfassung der Ukraine verstoßende Maidan-Revolution. Der Sieg der Maidan-Revolution hatte dann u. a. auch die Krim-Krise zur Folge. Mir geht es jedoch in erster Linie nicht darum, ob die Bundesregierung den Madrider Zentralstaat oder die Regierung Kataloniens unterstützt. Mir ist wichtig, dass ein drohendes unnötiges Blutvergießen vermieden wird. Spanien muss einsehen, dass es in dieser Krise keine Gewalt gegen Katalonien anwenden darf, um seine politischen Ziele durchzusetzen. Sofern die Bundesregierung die Katalanische Revolution als innerspanische Angelegenheit betrachtet, leistet sie womöglich einer militärischen Eskalation des Konfliktes durch Madrid Vorschub. Sie könnte vermittelnd tätig werden und auf einen Gewaltverzicht drängen.

Kritiker werfen den Katalanen Rassismus und Spaltung vor. Wie kommen die zu dieser Annahme?
Es gibt weder eine spanische noch eine katalanische „Rasse“. Der Begriff des „Rassismus“ ist in Zusammenhang mit Katalonien und Spanien völlig verfehlt. Während Spanien über lange Jahrzehnte die katalanische Sprache und Kultur unterdrückte, war Katalonien Minderheiten gegenüber immer tolerant. Die Stimmzettel für das Referendum waren übrigens dreisprachig, nämlich Katalanisch, Spanisch und Okzitanisch, da es in Katalonien im Vall d´Aran auch eine okzitanischsprachige Minderheit gibt, die Aranesisch spricht.

Zeitgleich fand in der kurdisch verwalteten Region im Irak ein Referendum statt. Kann man Parallelen zu Katalonien ziehen?
Ich bin kein Spezialist für die Türkei und den Wunsch der Kurden nach einem eigenen Nationalstaat. Ich verweise diesbezüglich lediglich auf Artikel 1 der Sozialcharta der Vereinten Nationen: „ (1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“
Ich bin dezidiert der Auffassung, dass der Wert eines jeden einzelnen Menschenlebens über Fragen der politischen Organisation von Staaten steht und diesbezügliche Konflikte friedlich auf dem Verhandlungsweg ausgetragen werden sollten. Was Katalonien angeht, so hoffe ich auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Sollte der spanische Zentralstaat sein Militär gegen die Bevölkerung Katalonien einsetzen, so könnte ich nur wünschen und hoffen, dass sich dann eines Tages die Verantwortlichen vor dem Internationalen Gerichtshof in strafrechtlicher Hinsicht zu verantworten haben werden.
Die Einrichtung eines kurdischen Nationalstaates scheint mir derzeit auf friedlichem Wege nicht möglich zu sein. So sehr ich jedem Volk dieser Welt seine Selbstbestimmung wünsche, so sehr bin ich doch auch ein Gegner jeder bewaffneten Auseinandersetzung und jeglicher Form von Gewalt gegen Menschen zur Durchsetzung politischer Ziele. Ich kann nur hoffen, dass sich Türken und Kurden eines Tages friedlich an den Verhandlungstisch setzen und eine für beide Seiten akzeptable Lösung aushandeln. Zur Zeit sehe ich dies allerdings als kaum realisierbar an.

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