Written by 20:00 HABERLER

Sternstunde des politischen Lieds

Mesut Bayraktar

Das politische Lied ist so alt wie Revolutionen. Seine plebejische Tradition reicht zurück bis zu den Sklavenaufständen im alten Rom, ob schriftlich oder durch Bericht überliefert. Das im täglichen Kampf geknechtete Denken und Fühlen freiheitsstrebender Massen kommt in solchen Liedern zum Ausdruck. Für die Herrschenden ist es, wie Goethe im Faust I schreibt „Ein garstig Lied!“, wenn sie es nicht gerade gezielt in Kriegshymnen und nationalistischen Gebrüll verdrehen, um die Massen mit ihren eigenen Wünschen zu täuschen.

Jede Revolution hat ihre Dichter, vor allem die proletarischen. Während in den Revolutionen von 1848 Ferdinand Freiligrath das politische Erwachen der Arbeiterklasse mit dem Lied „Trotz alledem!“ festhielt, hat Eugène Pottier den Geist der ersten sozialistischen Revolution 1871 festgehalten. Einen Monat nach der blutigen Maiwoche, in der die Bourgeoisie Arbeiter und Kommunarden skrupellos abgeschlachtet hatte, hat Pottier das Lied aller proletarischen Lieder verfasst: „Die Internationale“. Seither zieht es durch die Welt. Es wurde in nahezu alle Sprachen übersetzt und hat die Ideen der Kommune unauslöschlich ins Erbgut der Moderne eingeschrieben. Zum 25. Jahrestag des Todes von Pottier schrieb W. I. Lenin 1913: „In welchem Land auch immer sich ein klassenbewusster Arbeiter befindet, wo immer ihn das Schicksal hinwirft, wie sehr er sich auch als Fremder fühlen mag, ohne Sprache, ohne Freunde, weit weg von seinem Heimatland – er kann sich, Genossen und Freunde durch den vertrauten Refrain der Internationale finden.“ Damals wie heute gilt das in Europa, in Asien, in Afrika, in Amerika und in Australien.

Ein Arbeiter wird zum Dichter

Eugène Pottier wurde 1816 in Paris als Sohn eines Kistenmachers geboren. In einer Epoche scharfer Klassenkonflikte brach er mit 13 Jahren die Schule ab und arbeitete im Transportwesen. Mit 14 Jahren, nach der Julirevolution 1830, dichtete er sein erstes Lied. „Lang lebe die Freiheit!“. Fortan arbeitete er als Packer, Dekorationsmaler und Stoffmusterzeichner. 1848 kämpfte er auf den Barrikaden für die zweite Republik, die mit dem Staatsstreich Louis Bonapartes wieder in der Monarchie endete. Danach arbeitete er in Gewerkschaften und wurde Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), der Ersten Internationale, die 1864 Karl Marx mitgegründet hatte. Hier eignete sich Pottier die revolutionäre Theorie zur Emanzipation der Arbeiterklasse vom Joch des Kapitals an. Er wurde Kommunist. Im ersten proletarischen Staat, der Pariser Kommune 1871, nahm er an sämtlichen Aktivitäten als Kommunerat teil. Die grausame Niederschlagung zwang ihn zur Flucht nach England und von dort aus in die USA. Hier schrieb er im Juni 1871 die Urfassung der „Internationale“. Neun Jahre später kehrte er im Zuge einer Amnestie wie viele andere Kommunarden zurück nach Paris und unterstützte den Aufbau der Arbeiterpartei POF. 1887 starb Pottier als armer Dichter. In Begleitung von 5 000 Arbeitern wurde er im Père Lachaise beerdigt. Als die Polizei die Menge wegen eines roten Banners angriff, gab es von allen Seiten den Ruf: „Lang lebe Pottier!“

Karl Marx schrieb, dass das Paris der Arbeiter und die Kommune „ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft.“ Der Bote dieser neuen, klassenlosen Gesellschaft ist das Lied von Pottier, wo es heißt: „Das Volk will ja nur wiederhaben / Was man dem Volk gestohlen hat.“ Es lebe die Kommune, es lebe die Internationale. Ihr historischer Auftrag ist noch nicht abgegolten.

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