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Verhindern Razzien die Radikalisierung von Jugendlichen?

Eren Gültekin

Am 15. November fanden im Auftrag des Bundesinnenministeriums zeitgleich in zehn Bundesländern Razzien gegen die Organisation „Die wahre Religion“ statt, welches vom Salafistenprediger Ibrahim Abou Nagie geführt wird. Hunderte Polizisten durchsuchten knapp 200 Räumlichkeiten, Moscheen, Wohnungen, Büros und Lagerhallen. Der Schwerpunkt der Razzien lag in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg. Abou Nagies Organisation erlang in den letzten Jahren durch ihre Kampagne „Lies!“ mit dem Verteilen kostenloser Koranexemplare in ganz Deutschland und durch die selbsternannte „Scharia-Polizei“ in den Innenstädten wie in Wuppertal, die für ,,Ordnung“ sorgen würden, Aufmerksamkeit. Auch wurden sie medienbekannt aufgrund des ehemaligen Rappers Denis Cuspert alias „Deso Dogg“ aus Berlin-Kreuzberg, der zum Dschihad nach Syrien ging und dort gefallen war.

Thomas de Maizière: „Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie“

Kurz nachdem das Bundesinnenministerium das Vereinsverbot gemäß § 3 Absatz 1 und § 17 Nummer 3 Vereinsgesetz gegen „Die wahre Religion“ und die Koran-Verteilungen erließ und die Großrazzien bundesweit liefen, meldeten sich auch viele Politiker zu Wort, u.a. der Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit den Worten „Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. Für gewaltbereite Islamisten ist kein Platz in unserer Gesellschaft“.

Wer denn überhaupt diese gewaltbereiten Islamisten sind, wurde nicht näher definiert. Sind das etwa alle Kinder unserer Nachbarn, unserer Arbeitskollegen oder die von den kleinen Händlern aus unseren Stadtteilen, deren Söhne, gar Töchter? Die Kinder der Eltern, die ein Teil dieser arbeitenden Klasse sind? Denn das Bild zwischen „gläubigen“ und „gewaltbereiten“ Moslems ist mittlerweile deckungsgleich geworden. Die Frage, die sich stellt, ist, wie es denn überhaupt dazu kommt, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland, in einem „fortschrittlichem und modernem Land“ zu gewaltbereiten Islamisten werden können?

Weitere fuhr de Maizière fort: „Mit der Koranübersetzung in der Hand werden Hassbotschaften und verfassungsfeindliche Ideologien verbreitet und Jugendliche mit Verschwörungstheorien radikalisiert.“

Die Radikalisierung in der Gesellschaft ist mittlerweile überall zu spüren. Wie ist es aber überhaupt möglich geworden, dass generell Jugendliche, nicht nur Migranten, sondern auch deutsche Jugendliche, in den letzten Jahren radikalisiert und ins Visier von „Radikalen“ geraten konnten? Wenn man die Aussagen der Union und Sozialdemokraten betrachtet, sieht man keinen großen Unterschied in den Erklärungsmustern der Regierungsparteien.

Soziale Probleme werden verdrängt

NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) erklärt: „Wir haben das Verbot gemeinsam mit dem Bund rund ein Jahr lang vorbereitet. Uns ist damit ein weiterer empfindlicher Schlag gegen salafistische Extremisten gelungen. Wir trocknen diese Szene aus.“ Auch hier sehen wir keine wirkliche Lösung des Problems. Ob man wirklich mit dem Zerschlagen dieser Organisationen, die Jugendlichen vor Radikalisierung schützen kann? Nein, man kann sich sicher sein, dass es allein damit nicht getan ist! Denn das „Austrocknen“ der salafistischen Grundlagen muss bedeuten: Eine gesellschaftliche Veränderung von Grund auf!

In einer Gesellschaft, in der die Schere zwischen arm und reich immer größer wird, in der es keine Zukunftsperspektiven für Jugendliche gibt, in einem Land wie Deutschland, das zu den reichsten dieser Erde gehört, in dem die Bildung für viele zwar in Worten frei zugänglich, aber faktisch total elitär und selektiv ist und vor allem von der Klassenzugehörigkeit und sozialen Herkunft abhängig ist, kann man sich definitiv sicher sein, dass Jugendliche, die der arbeitenden und unteren Klassen angehören, mit ihren Sorgen und Nöten immer leicht abzufangen und zu radikalisieren sind: Die einen von Salafisten, die anderen von Demagogen und Rechtspopulisten!

Ein gutes Beispiel dazu ist die Untersuchung vom DGB, aus der hervorgeht, dass 1,2 Millionen Menschen in Deutschland im Alter zwischen 20 bis 29 Jahren keinen Berufsabschluss haben und diese jungen Menschen eine prekäre Beschäftigung ausüben oder gar von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Diese Menschen können kaum ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren und aktuelle Wahlergebnisse überall in der Welt zeigen, wie einfach es für radikale Gruppen ist, an diese Menschen heranzutreten.

Die gesamte Bevölkerung wird von allen Seiten radikalisiert

Kritik an den Razzien kam von Aydan Özoguz (Integrationsbeauftragte) „Razzien allein können die Radikalisierung vor allem junger Leute aber nicht verhindern, dazu braucht es vor allem mehr Präventionsarbeit. Den Kampf gegen Islamisten können wir zudem nur gemeinsam mit den Muslimen gewinnen.“ Das Hinterfragen dieser Razzien, worauf aber die Union und die SPD sehr stolz sind und womit sie sich seit Tagen brüsten, sorgte bei vielen für Empörung. In einem hat Özdogan aber Recht: Wer ernsthaft glaubt, dass mit solch einer Aktion die Radikalisierung von Jugendlichen verhindert werden könnte, gar die Salafisten abgeschreckt werden könnten, kann weiter träumen. Denn das Problem der Radikalisierung herrscht nicht nur bei Muslimen, auch der Rest der Bevölkerung wird radikalisiert. Der Rechtsruck in Europa ist ein Beweis dafür. Dabei wird aber eine ganze Religionsgemeinschaft als Feindbild geschaffen und demagogisch wird Schutz vor diesen „geboten“. Die wiederum fühlen sich nicht dazugehörig und laufen in die Arme der radikalen Moslems und die Spirale der Radikalisierung nimmt seinen Weg.

Somit können wir festhalten, dass mittlerweile die gesamte Bevölkerung von allen Seiten massiv radikalisiert wird. Um diese Radikalisierung aufhalten zu können, ist es vor allem wichtig, dass es Chancengleichheit und freien Zugang zur Bildung gibt, dass mehr Geld in die zivile Ausbildungsplätze investiert wird, dass Löhne zum Leben reichen. Auch muss der Profitgier der großen Manager Einhalt geboten werden, die für das Leid der Werktätigen verantwortlich sind. Die simpelste Präventionsarbeit wäre somit ein menschenwürdiges Leben zu schaffen, statt Arbeitslosigkeit, Hartz 4, Zweiklassen-Lohnsystem, schürende Zukunftsängste, Krieg und Hunger.

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